Kapitel 29

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Evangeline:

Als die Stille über der Morgenröte lauert, fühle ich mich, als wäre ich eingesperrt. Es fühlt sich an, als wäre nicht der Nebel unsere Angst, sondern die Angst selbst. Unsicher halte  ich meine Armbrust bereit, in der Hoffnung, auf niemanden Schießen zu müssen. Als ich sie so in meinen Händen halte, fühlt sie sich undenklich schwer und kalt an. Edmund beleuchtet einige Meter vor mir den Nebel, um wenigstens einige Meter weit sehen zu können, doch ich fühle mich, als wäre er das einzige, um das es sich noch zu kämpfen lohnt. 

Als plötzlich ein lautes Rufen ertönt, wäre mir beinahe vor Schreck die Armbrust aus der Hand gefallen. Doch sofort richtet sich meine Aufmerksamkeit auf den alten Mann, der auf einem Felsvorsprung mit einem Schwert umherwedelt. Er ruft etwas, doch aufgrund des Adrenalins, das  mir durch die Andern stößt, verstehe ich ihn nicht. 

Erst als Kaspian ein lautes ,,Lord Rhoop!" ertönen lässt, sinkt meine Anspannung ein wenig. Doch dann fällt mir auf, dass er das letzte fehlende Schwert in der Hand hält. Als Kaspian den Befehl zur Rettung des Lords gibt, greift Eustachius nach dem Lord und lässt ihn etwas unsanft auf dem Deck der Morgenröte fallen. Sofort richtet der Lord verzweifelt das Schwert auf uns. 

,,Warten sie-", sagt Kaspian ruhig, als der Lord ausholen will. Plötzlich hebt er den Arm und wirft das Schwert in Richtung Eustachius. Mit einem ekligen Schmatzer dringt es in die Schulter von Eustachius ein. Ein erstickter Schrei verlässt meine Kehle. Fast will ich ihm hinterherspringen, doch Lucy hält mich zurück. Mit einem bestialischen Brüllen verschwindet er und taucht im Nebel unter. 

Lord Rhoop erzählt etwas von unseren schlimmsten Ängsten, doch ich denke nur an Eustachius. Plötzlich höre ich eine mir vertraute Stimme. Ich ziehe scharf die Luft ein und sehe mein männliches Spiegelbild vor mir. Mein Vater. Er ist nicht gealtert. Seine Stimme klingt wie frisch gefallener Schnee. Ruhig und sorglos. Er streckt seine Hand nach mir aus.

,,Mein liebes Kind. Komm zu mir. Sonst wirst du mich nie wieder sehen.", sagt er lächelnd. Als ich nach seiner Hand greifen will, stocke ich. In seiner Stimme liegt etwas kaltes, als würde er mit einem Messer hinter seinem Rücken auf mich warten. Auch an seinem Lachen liegt etwas falsch. Er grinst vor sich hin. Mein Vater hat nie gegrinst. Er hat gelacht, aber nie gegrinst. 

Plötzlich ertönt ein lautes Krachen und etwas schlägt gegen die Seite der Morgenröte. Fast wäre ich umgefallen, wenn ich mich nicht rechtzeitig an der Reling fest halten hätte können. Erschrocken richte ich mich wieder auf. Als ich in Edmunds vor Schreck weißes Gesicht sehe, weiß ich was passiert ist. Er hat an etwas gedacht, das ihm Angst macht. Und jetzt ist es Wirklichkeit geworden. 

Sofort ist die ganze Mannschaft auf Bereitschaft. Sie heben ihre Waffen und stellen sich auf. Mein Blick wandert über ihre verängstigten Gesichter. Plötzlich ertönt ein bestialisches Brüllen und eine riesige Kreatur bäumt sich über uns auf. Für einen Moment dachte ich, dass die Zeit stehen bleiben würde. Sie ragt so hoch über uns, sodass ich kein Maul oder Gesicht erkennen kann. Erst als das Seemonster seine Zähne aufblitzen lässt, rühre ich mich wieder. Mit unglaublicher Geschwindigkeit rast es auf uns hinunter. Mit einem Sprung versuchen die Männer dem Biest auszuweichen. 

Sofort bricht Chaos aus. Ich versuche mein Zittern und Adrenalin unter Kontrolle zu bringen, da mir die Armbrust aus den Händen gefallen ist. Das Biest schlingt sich um die Morgenröte, wie eine Schlange, die versucht ihre Beute zu erwürgen. Im Grunde genommen stimmt das auch. Durch den entstandenen Druck brechen einige Bretter von der Morgenröte. Das Schiff schwankt mittlerweile so stark hin und her, sodass ich mein Gleichgewicht verliere. Die Armbrust schlittert ungehindert von mir weg, doch das kümmert mich nicht. Das einzige, das ich sehe, ist wie das Monster direkt über meinem Körper ist. Die Todesangst in meinen Adern lähmt mich. Ich versuche mich wegzudrücken und zu robben, doch meine Gliedmaßen gehorchen mir nicht mehr. Ich bin nur wenige Zentimeter weit gekommen, als das Biest sich schon wieder zusammenzieht. 

Plötzlich spüre ich starke Hände an meinen Schultern und werde hinausgezogen, doch mittlerweile peitscht der Wind so stark, sodass ich meine Augen kaum öffnen kann. Der niederprasselnde Regen macht das auch nicht leichter. Keuchend sehe ich meinen Retter an, der sein Schwert aus der Scheide zieht.

,,Geht es dir gut?", fragt er schreiend, da ich ihn sonst nicht verstanden hätte. An der Stimme erkenne ich, dass es Kaspian ist. Zur Antwort nicke ich kurz, unfähig ein Wort aus meiner Kehle zu pressen. 

,,Wir können es besiegen.", schreit er plötzlich und deutet auf einen winzigen Teil des Monsters, das er mit seinem Schwert abgeschlagen hat. Mit einem beißenden Geruch löst er sich in Luft auf. Bevor wir jedoch einen Plan machen können, lässt das Monster vom Schiff los, sodass wir in die andere Richtung schwanken. Nur mit Mühe kann ich mich an der Reling festhalten. Doch meine Hände sind rutschig. Glücklicherweise schwingt das Schiff zurück, denn sonst hätte ich mich nicht länger festhalten können. Dann wäre ich gnadenlos in die Tiefe des Meeres gefallen und ich weiß nicht, ob ich meinen Schwimmfähigkeiten trauen will. So wie ich mich kenne, würde ich vor Panik ertrinken. 

Mühsam rapple ich mich auf. Kaspian hat das Monster im Blick, das brüllend wieder zum Angriff ansetzt. Doch das einzige, das ich sehe, ist Edmund, der wie versteinert direkt in der Linie des Monsters steht. Nur mit wenigen Schritten bin ich bei ihm und stoße uns zu Boden. Als wir uns wenige Meter entfernt befinden, greift das Monster dort an, wo Edmund gerade gestanden hatte. Erschrocken sieht Edmund mich an. Als ich mich aufrappeln will, bemerke ich erst den Schmerz an meiner Handfläche. Als Edmund meine Hand in seine nehmen will, um es sich genauer anzusehen, ziehe ich sie aufgrund der Schmerzen zurück. Blut quillt daraus. Anscheinend habe ich mich beim Sturz irgendwie verletzt. 

Würde meine Hand nicht so weh tun, würde ich jetzt ironisch klatschen. 

Doch meine Hand ist mein geringstes Problem. Mit einer schnellen Bewegung schneidet Edmund ein Stück seines Shirts ab und wickelt es sanft um meine Hand. Obwohl wir mitten in einer Schlacht stehen, findet er noch Zeit, um mir zu helfen. Irgendwie süß, um ehrlich zu sein. Kaspian taucht neben uns auf und berichtet Edmund schnell, das wir das Monster besiegen können. 

,,Wir könnten es an dem Felsen dort vorne rammen.", schlägt Kaspian vor. Sofort nickt Edmund. 

,,Ich locke es vor den Bug."  

Lost Souls/Edmund PevensieWhere stories live. Discover now