Kapitel 38

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Ich vergaß wie man atmet. Das Blut rauschte in meinen Ohren, sodass ich nichts mehr hörte. Ich erwachte erst aus meiner Schockstarre als Lucy zu unserer Tante rannte und sich geschockt die Hände vor den Mund schlug.

Sofort rennen Eustachius und ich zu ihnen. Unsere Tante drückt verzweifelt ihre Hände gegen den Schenkel des Mädchens, sodass ihre Hände schon voller Blut sind. Als ich mich von der Wunde losreißen kann, wandert mein Blick nach oben und ich ziehe scharf die Luft ein. 

Das vorher hellgelbe Kleid ist zerrissen und voller Blut getränkt. Die Arme sind voller Glassplitter, wodurch dutzende Kratzer entstanden sind. Das Gesicht wird von den dunkelblonden Haaren verdeckt, doch ich wusste schon wer es war. Das unverkennbare Medaillon, das am Hals des Mädchens hängt, zeigt alles. Für einen Moment kann ich es nicht glauben, bis auch Eustachius und Lucy sie erkennen. 

,,Was-?", stottert Eustachius bevor auch er unbeholfen zusieht. 

,,Hole schnell Handtücher! Edmund! Hilf mir, sie hochzutragen.", ruft unsere Tante gestresst. ,,Edmund!" Nachdem ich mich wenige Sekunden nicht bewegt habe, greife ich mit zitternden Händen nach Evangelines Oberkörper. Schnell hebe ich sie komplett hoch. Ihr lebloser und kalter Körper liegt in meinen Armen als wäre sie schon Tod. 

,,Sie ist doch nicht etwa-?", fragt Lucy, da mir die Stimme versagte. Unsere Tante sieht mit nervösem Blick zwischen uns hin und her, während sie sich das Blut an der Hose abwischt.

,,Ich weiß es nicht. Ihr Puls ist niedrig, aber stetig. Sie hat aber so viel Blut verloren, dass ich nicht weiß, ob es nicht schon zu spät ist.", antwortet sie ehrlich. ,,Trag sie rein. Sofort!" Ohne zu Zögern laufen wir gemeinsam zum Haus, während ich immer wieder über meine Füße stolpere. Ich spüre wie mir Tränen die Sicht versperren. Dort wo ich sie trage, bohren sich Scherben leicht in meine Arme, doch das ist nicht zu vergleichen mit der Angst die ich gerade spüre. 

Was ist nur mit dir passiert?

,,Leg sie auf das Bett. Aber auf die Seite.", kommandiert unsere Tante, worauf ich Evangeline sachte auf mein Bett lege. Zum ersten Mal sehe ich ihr Gesicht, welches auch von kleinen Splittern übersäht ist. 

,,Wieso bringen wir sie nicht in ein Krankenhaus?", fragt Eustachius panisch, als er mit Handtüchern ins Zimmer kommt. 

,,Wir sind in Kriegszeiten. Jegliche Medizin wurde zu den Soldaten und Lazaretten geschickt.", erklärt sie. ,,Wir müssen die Splitter sofort herausziehen. Wer weiß, wie lange sie schon dort liegt." Sie streift sich schnell einen Handschuh über und zieht sofort mit zitternden Händen die Scherben raus. 

,,Drückt die Handtücher auf die offenen Wunden, von denen ich die Scherben schon entfernt habe. Sie bluten nur noch wenig, aber  wenn sie noch mehr Blut verliert, kann ich nicht mehr sagen, ob sie es schaffen wird." Mir zieht es das Herz zusammen, als ich nach einem Handtuch greife und es sachte an ihren Rücken drücke. Sofort bilden sich einzelne Blutflecken, doch es stoppt ziemlich schnell. 

,,Sie hat Glück, dass keine der Scherben ihren Hals oder Hauptadern getroffen haben. Sonst wäre sie sofort verblutet. Auch sind die Scherben nicht all zu tief darin. Wir müssen ihr aber trotzdem das Kleid ausziehen, damit wir alle herausbekommen.", erklärt unsere Tante schnell und greift ohne zu Zögern nach einer Schere und schneidet das Kleid an der Seite auf. Sie zieht es vorsichtig herunter, was schwerer ist als getan, da es voller Blut getränkt an ihrer Haut klebt.

Instinktiv schaue ich zur Seite, damit ich nicht Evangelines Halbnackten, verletzten Körper vor mir sehe. Ich drücke das Handtuch weiter auf die blutenden Stellen. 

,,Du musst schon hinsehen, Ed. Ihren Stolz schiebe mal zur Seite.", meint Lucy aufgelöst, worauf ich meinen Blick beschämt auf ihren Körper richte. Ungehindert laufen Tränen über meine Wangen. Mit einer Hand fasse ich an ihre Wange. Ich darf sie nicht verlieren. 

Bitte, halte durch.


Ich weiß nicht mehr wie lange ich schon neben ihrem Bett saß und stumm ihre Hand hielt. Eustachius und Lucy suchen einige Decken und Klamotten, um ihren Körper zu wärmen. Meine Tante kniet auf der anderen Seite und wickelt einen Verband um die größeren Wunden. 

,,Sie wird es schaffen. Sie ist ein starkes Kind.", versucht sie mich aufzumuntern, doch ich sehe ihr nur mit glasigen Augen ins Gesicht. 

,,Ich liebe sie. Was ist, wenn es meine Schuld war? Ich hätte sie nicht alleine nach Hause laufen lassen dürfen. Ich bin ein schrecklicher Mensch.", weine ich bitterlich. ,,Ihre Mutter macht sich bestimmt Sorgen. Hat ihr schon jemand Bescheid gesagt?" Wie vom Blitz getroffen kommt mir der Gedanke, dass ihre Mutter nicht die geringste Ahnung hat, was ihre Tochter gerade durchmacht. 

Verzweifelt springe ich auf und will zur Tür laufen, doch meine Tante hält mich am Arm zurück. Mit einem mitleidigen Blick sieht sie mich an und zieht mich zu Evangelines Bett zurück. 

,,Während ich Evangelines Wunden gesäubert habe, ist mir etwas aufgefallen.", erklärt sie mit zitternder Stimme. Stumm dreht sie das Mädchen sachte auf die Seite. Zuerst fällt mir nichts besonderes auf, da mich die vielen Verbände viel zu sehr ablenken. Erst als meine Tante mit ihrem Finger auf eine bestimmte Stelle zeigt, fokussiere ich mich darauf. Zögerlich und verwirrt lege ich auch meinen Finger darauf und streiche vorsichtig über die Haut von Evangeline. Erschrocken reiße ich meine Augen auf. 

,,Das sind-", fange ich an, doch unterbreche mich selbst. 

,,Narben, mein Junge. Sehr kleine, feine Narben. Manche etwas frischer, manche älter. Zuerst dachte ich sie kämen von dem Unfall, aber so schnell würden sie nicht heilen.", erklärt meine Tante, während sie mit mitleidigen Blick auf Evangeline seht. Vorsichtig fährt sie durch ihre Haare. 

,,Von woher kommen dann die Narben?", frage ich verwirrt, während mir eine Träne aus dem Augenwinkel entwischt. Sachte halte ich ihre Hand und drehe sie wieder auf den Rücken. Abgesehen von den Narben könnte man denken, sie wäre ein Engel, der schlafen würde. Also aus meiner Perspektive. 

,,Ich hatte schon lange eine Vermutung. Dieses Mädchen ist stark. Selbst als sie versucht hat ihre Gefühle oder Schmerzen zu verbergen, konnte ich ihr ansehen, dass etwas nicht stimmt. Es gibt nur eine Person, die im Stande wäre so etwas ihr anzutun. Ihre eigene Mutter." 

Stille.


Lost Souls/Edmund PevensieWhere stories live. Discover now