Kapitel 1: Qual der Einsamkeit

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Sapphire

Es war sechs Uhr Abends an einem schwülen Sonntag im November, neun Jahre nach der Katastrophe, die mein Leben komplett zerstört hatte, als mich meine verfluchte Erinnerung wieder einholte. Die Erinnerung an eben den Autounfall, der mir meine Familie genommen hatte, als ich gerademal sieben Jahre alt gewesen war.
Keiner brauchte mir zu sagen, dass das Leben viel zu kurz ist, und dass jeder Moment mit den Menschen, die man liebt, unendlich wertvoll ist. Das ist es nämlich, was mich das Schicksal damals gelehrt hat. Ungeachtet dessen, dass ich noch nicht annähernd bereit war, diese Erfahrung zu machen. Das war ich nicht als Kind, war es nicht als Teenager, bin es nicht als junge Frau von 16 Jahren und werde es auch ganz sicher niemals sein. Und ich bin sicher, dass es nicht nur mir so geht, sondern allen, die eine solch traumatische Erfahrung machen müssen.
Ich seuftze leise und ließ mich erschöpft zurück auf das weiche, gemachte Bett meines Zimmers fallen. Warum ich überhaupt aufgestanden war, war mir mittlerweile ein Rätsel.
Dieser verdammte Tag, der 21. November, hatte eindeutig kein gutes Karma. Das hatte mir schon das lähmende Gefühl klargemacht, das mir, kaum dass ich heute Morgen aufgewacht war, die Kehle zugeschnürt und mir den Atem geraubt hatte. Das ist nichts neues für mich. Mit den Jahren muss ich mich wohl oder übel daran gewöhnt haben.
Es heißt ja, dass der Schmerz mit der Zeit nachlässt. Bei mir jedenfalls war das so. Nur leider wurden nicht nur die Schmerzen mit der Zeit schwächer, sondern auch sämtliche Erinnerungen, die mir an meine Familie geblieben waren. Es ist wie ein Foto in meinem Kopf, das langsam immer mehr verschwindet. Mir blieben nur die Erinnerungen, die ich um keinen Preis behalten wollte, nämlich die an den Unfall. Und die Einsamkeit, die ich seither empfand, wo immer ich gehe und stehe. Oder liege, wie in diesem Fall.
Normalerweise pflegte ich die Gewohnheit, den 21. November allein in meinem Bett zu verbringen, Schule hin oder her, und das am besten schlafend. Vor allem heute, am Sonntag, sollte das normalerweise kein Problem sein. Doch dieses Mal hatte meine äußerst reizende und aufmerksame Mitbewohnerin Ivina offensichtlich andere Pläne für mich.
"Sapphire, ich weiß ganz genau, dass du da oben bist!", rief sie ungeduldig durch meine geschlossene Zimmertür, wobei sie sich gar nicht erst die Mühe machte, anzuklopfen, "Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du gefälligst mit diesem ständigen Trübsal blasen aufhören sollst? Damit hilfst du keinem, am wenigsten dir selbst! Versuch', es wenigstens für einen Abend zu vergessen und mit deinen Freunden Spaß zu haben, ja? Wir machen uns doch auch nur Sorgen und wollen dir helfen!"
Das ist typisch für Ivy. Sie ist immer nahezu nervtötend bis verletzend direkt und enthusiastisch. Aber weder naiv noch ein Plappermaul, wie ich es früher von mir selbst behaupten konnte. Noch dazu ist sie unglaublich beliebt, was durchaus an ihrer positiven Einstellung liegen dürfte.
Aber leider ist sie auch einfach nicht mehr loszuwerden, wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat.
Das zeigte sich auch in dieser Situation wieder deutlich, da sie, als keine Antwort von mir kam, sofort und ungebremst weiter auf mich eindrang: "Ich mein's ernst, Saph, reiß' dich zusammen! Ich hatte dir doch gesagt, dass Milan heute eine große Party im Anwesen seiner Eltern schmeißt, und ich habe Sammy, Ina und Olive versprochen, dass ich dich um jeden Preis mitschleppen würde, egal wie sehr du dich wehrst! Also bitte, ich will dich nicht zwingen müssen."
Ich stöhnte hörbar auf. Natürlich. Milans Party. Wie hatte ich das nur vergessen können, obwohl sie seit Wochen von nichts anderem mehr redete als von eben dieser Veranstaltung und natürlich von ihrem bescheuerten Freund? Milan ist aber auch wirklich ein Kotzbrocken der übelsten Sorte.
Nicht dass ich selbst bei den Jugendlichen meiner Schule sonderlichen Anklang finden würde, aber Milan schien mich aus irgendeinem Grund von Anfang an nicht leiden zu können, also schon seit dem ersten Jahr der Junior High School. Wann immer mich jemand als Streberin, Bücherwurm oder Freak beschimpfte, konnte ich mir fast sicher sein, dass er daran nicht unschuldig war.
Die meisten anderen Schüler mieden mich normalerweise und sprachen so wenig wie möglich mit mir. Ich gab mir auch nicht wirklich Mühe, etwas daran zu ändern. Wenn jemand auf mich zukommt, bin ich generell nett, entgegenkommend und habe keinerlei Vorurteile, doch ich konnte natürlich nicht erwarten, dass die anderen sich ebenso verhielten. Die Regel mit der Gegenseitigkeit hatte bei mir noch nie funktioniert.
Aufgrund meiner Leichtgläubigkeit und Freundlichkeit war ich früher sehr oft von anderen ausgenutzt worden. Ich hatte mich immer bemüht, meine angeblichen "Freunde" so glücklich wie möglich zu machen, ohne dabei an mich selbst zu denken, weil ich einfach nur dazugehören wollte. Ich wollte echte Freunde haben, egal was ich dafür tun musste. Echte Freunde, die mich akzeptierten und denen ich etwas bedeutete, obwohl jeder sehen konnte, dass ich nicht ganz mainstream war. Denn ich hatte keine Eltern mehr, die mich davor warnten wie gemein die Welt und andere Menschen und wie verletzlich ich selbst sein kann.
Ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich immer mehr von anderen Menschen in meinem Alter zu isolieren und wurde ihnen gegenüber zunehmend misstrauischer.
Es stimmte, ich hatte heute einige gute Freundinnen, mit denen ich mich verstand, die nett zu mir waren, die ich mochte und die ständig versuchten, mich in ihre Gemeinschaft zu integrieren. Ivy war die von ihnen, die mir am wichtigsten war und mit der ich am meisten zu tun hatte. Kein Wunder, schließlich war sie meine Mitbewohnerin, wofür ich ihr allein schon unendlich dankbar war. Das war ein weiterer meiner Charakterzuge, diese übermäßige Dankbarkeit, mit der ich alles und jeden bedachte, der mir etwas Gutes tat. Denn dass soetwas passierte, kam mir oft einfach nur zu schön vor um wahr zu sein.
Viele der Schüler meiner Jahrgangsstufe jedoch schien diese weitere "Macke" von mir nur noch mehr abzuschrecken, nicht jedoch Sammy, Ina und Olive, die ich ebenfalls zu meinem winzigen Freundeskreis zu zählen wagte. Mit diesen vier Freundinnen war ich mit anderen auch schon fertig.
Das Problem war nur, dass keine von ihnen für mich jemals lebensnotwendig sein könnte oder diese typische BFFIUE (Beste Freundin für immer und ewig) sein könnte, die einem jedes Wort vom Gesicht abließt, die die eigenen Gedanken und Gefühle sofort kennt, ohne dass man etwas erklären muss, und die immer weiß, womit sie einem helfen kann. An soetwas glaube ich nicht, vielleicht aber lediglich, weil ich es nie hatte, ebenso wenig wie eine Familie, die diese Leere füllt. Mit keiner von ihnen, nicht mal mit Ivy, kann ich über das reden, was ich wirklich fühle.

Doch langsam, da ich weiterhin behaglich schwieg, wurde Ivy draußen vor meiner Tür immer ungeduldiger. "Hey, Saph, hörst du mir überhaupt zu?! Ich hab's dir doch gesagt, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit! Ooh bitte, Saph, komm mit auf die Party! Tu's mir zuliebe!"
Ich stöhnte in mein Kissen. Ihr musste klar sein, dass sie sowieso schon gewonnen hatte. Das gehört nunmal dazu, wenn man seinen Freundinnen immer alles recht machen will.
Und trotzdem... ich war kein Party-Mensch. Oder besser: ich hatte Partys schon immer verabscheut. All die vielen Leute, dabei war ich doch absolut nicht gesellig, Menschenmengen machten mich eher nervös. Dazu kam die ohrenbetäubend laute Musik, die einem sämtliche Gehörhärchen im Innenohr abknickt, meistens waren es auch noch dermaßen bescheuerte Lieder mit Texten, bei denen mir schlecht wurde (die Jugend von heute bevorzugte jede Menge kranken Scheiß über Alkohol, Drogen und Sex).
Was mich auch schon zu meinem nächsten Punkt führte: dem Alkohol, der auf solchen Partys in Strömen floss und der Abscheu vor dem ekelhaften Zeug, dass man einem dort andrehte. Oh, wie ich Alkohol hasste. Vor allem Eierlikör. Aber das, was mich seit meiner ersten Klassenfahrt immer am sichersten von einem weiteren Partybesuch abgehalten hatte, war die unumstößliche Tatsache, dass ich weder tanzen konnte, noch es überhaupt wollte.
Doch trotz alledem und obwohl ich mich selbst innerlich dafür verfluchte, schwang ich meine langen Beine über die Bettkante, stand schwerfällig auf und warf noch einen letzten Blick auf das eingerahmte Foto meiner Familie auf meinem Schreibtisch. Es zeigte meinen glücklich lächelnden Vater, der meine hochschwangere Mutter im Arm hatte, die bald ihr gemeinsames, viertes Kind, einen Jungen gebären sollte. Während mein Vater Norman mit seinen glatten, schwarzen Haaren und den grauen Augen wenig vertrauenerweckend wirkte, strahlte die dunkelblonde Caroline Wärme und Lebensfreude aus. Mal wieder fiel mir auf, dass ich ihr unverkennbar ähnlich sah.
Vor den beiden rauften meine zwei schwarzhaarigen Zwillingsbrüder Max und Jamie miteinander. Zum Zeitpunkt dieser Aufnahme sowie bei ihrem Tod waren sie knapp vier Jahre alt gewesen, gerademal drei Jahre jünger als ich. Ich hatte diese zwei Streithähne mehr geliebt als alles andere.
Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, mich von dem Foto ab und stattdessen der Tür zuzuwenden. Als ich ihr öffnete, grinste Ivy bis über beide Ohren wie ein Honigkuchenpferd. Es war eindeutig, dass ich ihr gerade den Abend gerettet hatte.

Schonmal vielen, vielen Dank an euch fürs Lesen! 🤗😉🤩Ich hoffe, die Story gefällt euch bis jetzt. Seid ein bisschen nachsichtig mit mir, es ist schließlich meine Erste auf Wattpad!😉 Ich weiß, bis jetzt ist es noch ziemlich depri, das gefällt mir normalerweise auch nicht so. Für diese Story ist es aber nötig und es wird sich auch bald ändern, versprochen! Über Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge würde ich mich sehr freuen. Ich hoffe, ich habe nicht zu viele Fehler gemacht.😊😊 Wenn es euch gefallen hat, ich würde mich auch freuen, wenn ihr weiterlesen würdet😁😊

Pakt mit dem Teufel - Der Dämon meiner Träume ⏸Where stories live. Discover now