Kapitel 3: Wagnis oder Sünde?

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Die Straßen des kleinen Viertels von Cambridge, das ich seit 16 Jahren mein Zuhause nannte, waren längst dunkel und verlassen, als ich sie nach meiner glücklicherweise erfolgreichen und hoffentlich unbemerkten Flucht aus Milans Anwesen entlangschritt. Kein Wunder bei dieser Urzeit. Aufgrund der durchdringenden Schwärze über mir, die nur vom Leuchten des abnehmenden Halbmondes durchdrungen wurde, war ich mir ziemlich sicher, dass die Zeiger meiner Uhr bereits die elf überschritten hatten. Wie lange war ich auf dieser Party gewesen? Warum hatte ich eigentlich den verdammten Fehler gemacht, überhaupt hinzugehen? Genau genommen war doch klar gewesen, dass nur etwas schlechtes dabei herauskommen konnte.
Nach wie vor glitzerten einzelne letzte Tränen in meinen Augen, die meine Sicht auf die Gebäude, an denen ich vorbeilief, verschwimmen ließen. Um ehrlich zu sein, wollte ich einfach nur noch nach Hause, mich dort wieder in meinem Bett verkriechen und mich so richtig ausheulen. Sollten Ivy, Sammy, Ina und Olive doch selbst gucken, wo sie blieben. Wenn es darauf ankam, stand ich ja sowieso nur wieder allein da.

Ein einzelnes Auto, das auf der Straße an mir vorbeibrauste und die Pfutze im Rinnstein so aufspritzte, das sich ihr gesamter, schmutziger und stinkender Inhalt über meine Haare und Klamotten ergoss, veranlasste mich dazu, mich zum ersten Mal seit einer Viertelstunde wieder umzusehen. Entgegen meiner Annahme stellte ich jedoch fest, dass mir meine Umgebung keineswegs bekannt vorkam. Es war eine kleine, zu beiden Seiten mit Häusern bebaute Straße wie es in Cambridge viele gibt, die Läden jedoch, die sich in diesen Häusern hatte ich noch nie gesehen.
Ich konnte nicht verhindern, dass leichte Panik in mir aufstieg. Wo war ich hier nur wieder gelandet? Ich hatte mich noch nie allein in Cambridge verlaufen, schon gar nicht mitten in der Nacht, und wusste nicht, was ich in einer solchen Situation mit mir anfangen sollte.
In meinem Heimatviertel, West Cambridge, kannte ich mich trotz seiner Größe eigentlich so gut aus, dass ich jede Straße dort sofort einordnen könnte, zumal ich es nur zur Schule oder für irgendwelche Spezialaktivitäten verließ. Wie weit konnte ich nach dieser kurzen Zeit wohl davon entfernt sein?
Ich verfluchte mich stumm selbst für meine Dummheit. "Na, das hast du aber wirklich super hingekriegt, Sapphire", dachte ich wütend, "Da siehst du mal wieder, was passiert, wenn du dich von Idioten wie Draken oder verdammten High School-Partys ablenken lässt!" Instinktiv packte ich meinen Rucksack und wühlte darin nach meinem Handy. Doch alles, was ich zu fassen bekam, waren mein Hygienetäschchen, ein paar zerknitterte ein-Dollar-Scheine, ein leerer Kugelschreiber und eine uralte Packung steinharter Gummibärchen.
Igitt. Dass ich die Dinger nie gegessen habe, liegt einfach daran, dass ich den Gedanken abstoßend finde, dass darin die Knochen toter Tiere verarbeitet worden sind.
Doch egal wie sehr ich mich über mich selbst und meine mangelnde Geistesgegenwart ärgerte und meinen Rucksack auseinandernahm, mein Handy blieb verschwunden.
Dann erinnerte ich mich wieder und schlug mir frustriert mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich. Ich hatte es zuhause extra noch ans Ladekabel gesteckt und dann einfach dort liegen lassen. Was für ein Geniestreich. Damit konnte ich sowohl meinen Abholdienstt namens Ivy als auch einen GPS-Hinweis darauf, wo ich mich befand, komplett vergessen. Nichtmal ein Taxi konnte ich mir rufen, selbst wenn ich das Geld dazu gehabt hätte.
Meine Knie gaben nach und ich sank auf die Pflastersteine des Gehwegs. Erneut spürte ich wie Tränen der Hilflosigkeit in meine Augen stiegen. Ich war in letzter Zeit eindeutig viel zu nah am Wasser gebaut. Obwohl es mir ja sowieso nichts nutzte, ein Nervenzusammenbruch würde mich auch nicht nach Hause bringen. Ich war ganz allein in einer fremden Umgebung und es war elf Uhr nachts. Wie sollte ich hier nur wieder wegkommen? Mein nicht vorhandener Traumprinz würde mich bedenfalls nicht retten. Aber es war ja typisch, dass ich sofort wieder an dieses Märchen dachte.
Gerade als ich beschlossen hatte, dass ich es mir in meiner Einsamkeit durchaus leisten konnte, den Tränen freien Lauf zu lassen, versetzte mich ein metallenes Quietschen in höchste Alarmbereitschaft. Was war das? War ich etwa doch nicht allein? Mir grauste es vor der Antwort. Doch als ich zitternd aufsah, stellte ich erleichtert fest, dass das Geräusch lediglich von der verrosteten Halterung eines rechteckigen Holzschildes stammte. Es zierte die Außenwand eines der Geschäfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schaukelte leicht gespenstisch im Wind.
Anders als ich vielleicht erwartet hätte, machte mich dieser Anblick weniger ängstlich als neugierig. Ich hob meinen Rucksack vom Boden auf, schloss ihn und schwang ihn erneut auf den Rücken, bevor ich in beide Richtungen die Straße entlangsah. Überflüssig, ich war das einzige Lebewesen weit und breit.
Hastig lief ich über die Straße, blieb direkt unter dem Schild stehen und starrte zu ihm nach oben. Das dunkle Holz mit verwachsener Inschrift wirkte zusammen mit seiner Halterung, die der Rost von Jahrzehnten, vielleicht sogar mehr, orange-rot gefärbt hatte, absolut fehl am Platz in einer solch eleganten, modernen Straße. Wie kam es, dass der Ladenbesitzer es nicht längst abgehängt hatte?
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, die uralte, fast unlesbare Inschrift zu entziffern. "Ne...Neu...New Strea...New Street!", murmelte ich begeistert. Diesen Straßennamen kannte ich! Die New Street war eine kleine Straße im südlichen Teil der Cambridge Highlands (wo ich mich ansonsten nicht gelernt hatte, mich zurechtzufinden,) und lag direkt neben dem Danhey Park, den ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr besucht hatte. Nicht seit Mum und ich Jamie hier das Fahrradfahren beigebracht hatten. Und tatsächlich, als ich den Blick hob, erkannte ich über denn Gebäudedächern der New Street schwarze Laubbaumkronen.
Erneut durchströmte micv eine Welle der Erleichterung. Wenigstens wusste ich jetzt, wo ich war. Die Frage, wie ich hier wieder wegkommen sollte, war allerdings nicht ganz so leicht zu beantworten. Ich kannte weder den Weg zu Fuß, noch zur nächsten U-Bahnstation oder Bushaltestelle (immer vorrausgesetzt, diese fuhren um diese Uhrzeit noch,) und trotzdem war ich mir sicher, dass es von hier aus mindestens zwei Kilometer zu laufen waren, um unsere Wohnung in East Cambridge zu erreichen.
"Es bringt ja nichts", sagte ich zu mir selbst, meine Müdigkeit und Erschöpfung geflissentlich ignorierend, "Ich muss da sowieso durch."
Doch gerade als ich einfach losgehen und der Straße in die Richtung folgen wollte, die ich für die richtige hielt, lenkte erneut etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal war es jedoch kein Geräusch, sondern ein merkwürdiges, leicht angsteinflößendes, rötliches Flackern neben mir. Langsam drehte ich mich, mit einem mulmigen Gefühl im Magen, nach rechts, während ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass ich mich nicht fürchtete.
Tatsächlich, die gläsernen Schaufenster des Ladens, dessen dunkelbraune Backsteinmauer, wie mir jetzt erst auffiel, ebenfalls nicht in dieses Jahrhundert gehörte, von einem sattroten Schimmer erleuchtet. Diese Farbe entstammte den ebenfalls roten, fließenden Seidenvorhängen, die die Auslage vom Inneren des Ladens trennten. Die Auslage selbst enthlielt eine fein säuberlich platzierte Reihe von Gegenständen, wie ich sie noch nie zuvor in einem Laden gesehen hatte. Nichtmal einem, der nicht aus dem 21. Jahrhundert stammte. Ich musste zugeben, dass sie mich stark an Borgin & Burkes, dem Laden für "Alltagsgegenstände" der Dunklen Künste aus Harry Potter erinnerte. Und obwohl das normalerweise gar nicht meine Art war, verstörte er mich nicht nur und ekelte mich an, sondern aus unerfindlichen Gründen faszinierte er mich auch.
Die kleinen, schwarzen Podeste zierten rote, edelste Samtkissen mit Totenköpfen und Knochen darauf, von Rattenskeletten über die allerhand größerer Tiere bis hin zu einem Schädel, der eindeutig menschlich war, umgeben von dazu passenden Gebeinen. Ich spürte, wie der Würgereiz von vorhin wieder zurückkehrte. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die soetwas kalt ließ.
Neben den Kissen standen durchsichtige Fläschchen deren Inhalt verdächtig giftig wirkte. Ich beugte mich vor, um eines der zugehörigen Ettikte zu lesen, die in mittelalterlicher, geschwungener Schrift benannt waren und mir wurde schlecht.

Pakt mit dem Teufel - Der Dämon meiner Träume ⏸Where stories live. Discover now