Kapitel 8: Das erste Prickeln...

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Sapphire

Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich, wie Eathen den Blick von mir abwandte, mir den Rücken zu drehte und sich in der Reihe vor mir links neben Taryn niederließ. Die beiden schienen sich bereits zu kennen. Was vermuten ließ, dass der neue Schüler schon jetzt wie sein neuer Kumpel zu Team Draken MCee tendierte.
Obwohl mich irgendetwas in mir vermuten ließ, dass in diesem Fall der Schein trügte. Eathen wirkte auf mich nicht wie ein Mitläufer. Ganz im Gegenteil. Als er die Klasse betreten hatte, war es mir einen winzigen Moment so vorgekommen, als würde er nicht hierher, in dieses lächerliche, seit jeher klar strukturierte System, das unsere Schule darstellte, passen. Als wäre er anders. So wie ...ich.
Sein Blick hatte etwas in mir ausgelöst. Das konnte ich nicht leugnen. Der nur ungefähr eine Sekunde andauernde Moment, in dem diese unglaublichen, so ausdrucksstarken, strahlend smaragdgrünen Augen meinen begegnet waren, war mir einfach nur magisch vorgekommen.
Taryn beugte sich grinsend zu Eathen hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin drehte dieser den Kopf in die Richtung seines Freundes, sodass ich ihn im Profil sehen konnte. Allerdings schien er Taryn nur mit halbem Ohr zuzuhören, während sein Gesichtsausdruck merkwürdig abwesend wirkte, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Auf die Worte seines Sitznachbarn nickte er nur mechanisch, bevor er sich völlig unerwartet in meine Richtung wendete und mich direkt und mit ausdrucksloser Miene ansah. Sein Blick ließ mich erschaudern. Aber auf eine völlig verdrehte, angenehme Art.
Dann jedoch schnellte seinen Kopf sofort wieder in Richtung Tafel, als Miss Haylyn dort seinen Namen nannte. Ich wendete mich ebenfalls leicht peinlich berührt ihr zu, als mir klar wurde, dass ich kein einziges ihrer Worte mitbekommen hatte.
"...Mr Harper von nun an wie alle anderen auch so gut unterstützen, wie es Ihnen möglich ist, und ihm helfen, sich trotz dieses ungewöhnlichen Zeitpunktes in unsere Klassengemeinschaft einzugliedern. Ich bin sicher, Sie werden alle gute Freunde werden. Um sich gleich besser kennenzulernen, Mr Harper, möchten Sie uns nicht noch etwas über Sich erzählen?", erkundigte sich die Englischlehrerin mit großem, bettelnden Augen. Auf diese Informationen schien sie auf keinen Fall verzichten zu wollen. Und an den Gesichtern der Mädchen um mich herum war deutlich abzulesen, dass es ihnen genauso ging. Auch ich musste wohl oder übel zugeben, dass mich dieser Junge mehr als nur ein bisschen neugierig machte.
Eathen erlaubte sich ein kaum merkliches, schiefes Lächeln, bevor er mit sachlicher Miene auf die Frage der Lehrerin antwortete, ohne sich dabei etwas anmerken zu lassen: "Viel gibt es da nicht zu sagen", erklärte er knapp mit einem Tonfall, als würde er den Wetterbericht verlesen, "Meinen Namen kennt ihr ja schon. Ich bin im Oktober 17 Jahre alt geworden und gestern aus Hollywood nach Cambridge gezogen." Ohne zu lügen: seine Stimme verursachte mir eine Gänsehaut.
Eathen verstummte und blickte Miss Haylyn neutral-abwartend an. "Hat noch jemand Fragen dazu?", setzte er hinterher und bemühte sich um ein freundliches Lächeln, das ihm mit ziemlicher Sicherheit jeder als echt abkaufte. Außer mir.
Ivys Hand schoss in die Höhe. Ihre Augen leuchteten, als sie ihn ansah, während Milan neben ihr sie argwöhnisch beäugte. "Was sind deine Hobbys?", wollte sie eifrig wissen.
"Ich habe keine. Außer Musik vielleicht. Jedenfalls darf es nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen", erwiderte der neue Schüler ernst. Das Lächeln war längst wieder von seinen Lippen verschwunden. Es war schlichtweg unmöglich, ihm am Gesicht abzulesen, was er dachte. Ich grübelte unterdessen über seine mehr als ungewöhnliche Antwort nach, wurde aus ihr jedoch trotzdem nicht schlau.
Eathen nickte einer Klassenkameraden mit pinker Irokesenfrisur in der Ecke zu (ihr Name war mir irgendwie entfallen, vielleicht etwas mit C?), die mit der Hand in der Luft auf dem Stuhl auf und ab hüpfte. "Was machen deine Eltern beruflich? Bestimmt etwas, womit du dir andere Klamotten leisten könntest, oder? Solche, in denen man mehr von dir sieht?", fragte sie gespannt, eher etwas zu interessiert als abwertend.
Ich stöhnte innerlich. Konnte mein Jahrgang nicht zur Abwechslung mal so tun, als wären sie intelligent genug, nicht nur Wert auf das Äußere zu legen? War es unbedingt nötig, Eathen jetzt schon zu vergraulen?
Das allerdings, was er darauf erwiderte, machte mir die wahren Ausmaße der Frage erst richtig bewusst. "Eltern? Damit sind zwei Erwachsene gemeint, die einen lieben, sich um ihn kümmern und immer für ihn da sind, oder? Wenn du darauf hinaus willst, bist du bei mir leider an der falschen Adresse. Für mich gibt es da lediglich meine leiblichen Eltern, die "Erzeuger". Und die habe ich nie kennengelernt. Keine Ahnung, wo sie sind, sollten sie überhaupt noch leben. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihnen das wünschen soll. Also, um auf deine Frage einzugehen: nein, meine Eltern werden mir keine neuen Klamotten kaufen."
Seine Enthüllung traf mich tief. Eathen mochte diese Worte, diese schreckliche Wahrheit, so sachlich und emotionslos ausgesprochen haben wie überhaupt möglich, doch trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen - welch Ironie - taten sie mir umso mehr im Herzen weh. Ich konnte beinahe Eathens Einsamkeit, Verbitterung und Wut in mir spüren, ohne zu wissen, ob er tatsächlich so empfand. Ich war schon immer ein sehr mitfühlender Mensch gewesen, doch eine solche Situation hatte ich noch nie erlebt. Dass ich jemanden traf, dessen Vergangenheit möglicherweise noch schlimmer, schmerzhafter und prägender war als meine Eigene.
Das war sicher ein Teil dessen, was Eathen schon auf den ersten Blick besonders machte. Ihn von den normalen Jugendlichen, die keine anderen Sorgen hatten als Lernstoff, Mode und kleinliche Geschwister-Streitigkeiten, abhob. Er war wirklich anders.
Und das macht ihn für mich auf eine verdrehte Art noch attraktiver und weitaus anziehender. Und das musste etwas heißen, wenn man bedachte, dass er auch so schon mit Abstand die beeindruckendste (und heißeste) Person im Raum - und sicher der ganzen Schule, oder besser ganz Boston - ach, was sagte ich denn, der ganzen Welt - war.
Erneut schien ich jedoch nicht die Einzige zu sein, die so dachte. Darauf ließen jedenfalls die begierigen Blicke der Mädchen ringsum (und Miss Haylyn) schließen.
"Bist du eigentlich single, Honey?", säuselte Gean mit ihrem berühmt-berüchtigten Augenaufschlag, mit dem sie angeblich schon jeden Jungen der Stufe in die Kiste gekriegt hatte. Ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog, während ich unter dem Tisch automatisch die Hände zu Fäusten ballte.
Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass Eathen mit ihr oder einer anderen dieser Sex-fixierten Tussen im Bett landete. Ich wollte nicht, dass sie ihn mit Kosenamen oder dieser anschmachtenden Stimme und Körperhaltung ansprach. Ich wollte nicht, dass Gean ihn fragte, ob er eine Freundin hatte. Ich wollte nichtmal, dass sie oder irgendeine andere ihn so ansah. Vor allem aber hatte ich Angst davor, dass er auf sie ansprang.
Ich merkte erst, dass ich vor Eifersucht deutlich mehr gebrodelt hatte als je zuvor, als Eathen bereits auf Gean reagiert hatte. Allerdings nicht so, wie es die Klasse erwartete. Er zuckte nichtmal mit der Wimper, geschweige denn, dass ich seine Miene in irgendeiner Form änderte. Wenn überhaupt wurde der Ausdruck in seinen unglaublichen Augen um eine Spur schärfer.
"Ich bin nicht verpflichtet oder gewillt, irgendwelche Fragen über mein Privatleben zu beantworten. Daher rate ich allen, die vorhatten, sich nach so etwas in der Art zu erkundigen, sich ihr Wortpensum für den Englischunterricht aufzusparen. Und da ich nicht geneigt bin, dieses Frage-Antwort-Spiel weiterzuführen, wäre es jetzt doch ein guter Zeitpunkt, mit der Lektion zu beginnen", bemerkte er nicht wütend, aber ein kleines Bisschen abweisend und gereizt. Sein Ton hatte etwas Abschließendes.
Miss Haylyn setzte ein viel zu gekünsteltes Lächeln auf und begann zu sprechen. Erneut war ich nichtmal annähernd in der Lage, ihren Worten zu folgen. Wie alle anderen in der Klasse war ich immer noch baff von der bestimmten, direkten und obendrein sachlichen Abfuhr, die Eathen dem begehrtesten Mädchen der Schule erteilt hatte. Es war - nicht nur nach ihrem völlig aus den Wolken gerissenen Blick (der übrigens Gold wert war) - mit hundertprozentiger Sicherheit die Erste, die sie seit Jahren kassiert hatte. Ich konnte nicht umhin, Eathen mit jeder Sekunde mehr zu bewundern, während ich mit teilnahmslosem Gesicht nach vorne auf seinen von eisgrünem, widerspenstigem Haar bedeckten Hinterkopf starrte. Seine Haare faszinierten mich genauso sehr wie alles an ihm. Sie sahen so unendlich weich aus...
Ich bedauerte es sehr, dass er uns daran gehindert hatte, mehr Fragen über ihn zu stellen, denn ich konnte mich nicht erinnern, jemals auf etwas so neugierig gewesen zu sein. Ich wollte so unbedingt mehr über diesen Jungen erfahren, der auf mich eine so magische Wirkung hatte. Ich wollte wissen, was der in seinem bisherigen Leben für Erfahrungen gemacht hatte; wie ihn das beeinflusst und verändert hatte; wie es in seinem Kopf und seinem Herzen aussah (natürlich metaphorisch gesprochen); wie er dachte; und wie er andere wahrnahm. Wie es sich wohl anfühlte, von ihm geliebt zu werden?
Am Rande meines verwirrten Bewusstseins war mir klar, dass es mir in dieser Stunde völlig unmöglich sein würde, dem Unterricht zu lauschen oder gar zu folgen. Stattdessen beobachtete ich gespannt, wie sich Eathen nach vielleicht fünf Minuten (mein Zeitgefühl hatte sich schon mit meiner Auffassungsgabe verabschiedet) zu Taryn umdrehte und diesem etwas ins Ohr flüsterte. Zu meinem größten Bedauern sprach er zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. Dabei wünschte ich mir doch so sehr, seine Stimme noch einmal hören zu können.
Taryn grinste breit, warf mir einen leicht verwirrten Blick zu und zischte etwas zurück das wie "Jowett? Im Ernst, Eath? Na, bei diesem kleinen Mauerblümchen wünsche ich dir viel Glück. Es ist wirklich schwer, an sie heranzukommen. Draken MCee versucht es schon seit Jahren und sie ist nach wie vor das einzige Mädchen der Oberstufe, das er noch nicht gekriegt hat." klang.
Ich spitzte die Ohren, um Eathens Erwiderung diesmal zu verstehen. Mein Herz klopfte wie wild. Die beiden sprachen über mich! Und Eathen schien auch noch nach mir gefragt zu haben!
"Danke", murmelte Eathen mit unverändert ausdrucksloser Miene, "Was weißt du über sie?" Erneut drehte er sich halb zu mir um und sein Blick begegnete ein weiteres Mal meinem. Mir stockte für einen Moment der Atem und ich spürte Hitze in meinen Wangen aufsteigen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich mir sicher gewesen, neben dem ernsten Ausdruck in seinen hellgrün gesprenkelten Augen versteckte, unverhohlene Neugier aufblitzen zu sehen. Die Geschwindigkeit meines Herzschlages gleich mittlerweile der nach einem 100-Meter-Sprint.
Doch gleich darauf war der Moment auch schon vorüber und Eathens Aufmerksamkeit galt wieder Taryn, der gerade erneut zu reden begann: "Nicht viel, muss ich ehrlich gestehen. Jowett - oh nein, tut mir leid, ich meine natürlich Sapphire - und ich haben nicht sonderlich viel miteinander zu tun. Sie kann mich, glaube ich, nicht sonderlich gut leiden. Aber ich kann es ihr auch nicht verdenken. Sie wird immer von allen ziemlich übel angegangen... und vielleicht... mache ich da manchmal mit. Normalerweise ist es Draken MCee, der uns dazu anstiftet, um sie zu ärgern..." Hatte ich es mir doch gedacht.
Für einen kurzen Moment glaubte ich, Wut über Eathens Gesicht huschen zu sehen, doch gleich darauf hatte er es durch seinen üblichen Ernst, verbunden mit Teilnahmslosigkeit ersetzt und ich war sicher, es mir nur eingebildet zu haben. Schließlich war diese Miene das, was Eathen zu benutzen schien, um seine Gedanken und Gefühle vor der Außenwelt zu verschleiern. "Erzähl mir mehr über diesen Draken MCee", forderte er Taryn auf, stürzte den linken Ellenbogen auf den Tisch, platzierte sein Kinn auf seiner Handfläche, als würde er sich auf einen langen Vortrag vorbereiten, und sah seinen Freund abwartend an.
Erneut ließ meine Aufmerksamkeit nach, ich hatte sowieso keinerlei Interesse daran, mich noch mehr mit Draken zu beschäftigen als er mir so schon aufzwang, zumal ich sicher alles schon wusste, was Taryn über diesen zu erzählen hatte, und verbrachte die restliche Stunde damit, teils bewusst, teils unbewusst Eathen vor mir anzustarren. Er beobachtete seinen Freund aufmerksam, während dieser redete, und behielt dabei meist seine ausdruckslose Miene bei. Was mich allerdings am meisten beeindruckte, waren die Momente, in denen sich auf seinen wahrlich perfekten Zügen eine Gefühlsregung zeigte, wie wenn er nachdenklich seine regelmäßigen, eisgrünen Augenbrauen zusammenzog - ein Anblick, der einem Gemälde gleichkam - , oder er vor Wut die Zähne zusammenpresste, sodass sich seine Wangenmuskulatur deutlich anspannte und sein Kiefer mahlte. Es war unmöglich, die Kraft zu übersehen, die hinter dieser Bewegung steckte. Hin und wieder zerzauste ihm eine kühle Herbstbrise, die sich durch die geöffnetten Fenster in den Raum stahl, die eisgrünen Strähnen, was sie noch unordentlicher und ihn auf eine merkwürdige Art noch anziehender machte. Es war eine große Herausforderung, dem starken Drang zu wiederstehen, mich über meinen Tisch nach vorne zu beugen und die Hand durch seine so verlockend weich aussehenden Haare gleiten zu lassen. Hatte ich schon erwähnt, wie unendlich weich sie schienen? Wie gerne wüsste ich, wie sich das wohl anfühlte...
Das Klingeln, dass die erste Stunde beendete, riss mich erstmals aus meinem Tagtraum. Hastiges Geraschel war zu hören, als die Schüler ringsum in Rekordgeschwindigkeit ihre Englischmaterialien in ihre Schulranzen stopften und aufsprangen, nur um dem Raum hastig und in unüberhörbarer Lautstärke zu verlassen. Miss Haylyn lächelte wohlwollend, während sie den Schwamm zur Hand nahm, um ihre Notizen dieser Stunde von der Tafel zu wischen.
Ich erlaubte mir einen letzten Blick auf Eathen, der sich immer noch mit Taryn unterhielt, nun mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, und ohne große Eile seine Sachen in seinen schlichten, schwarzen, etwas ramponierten Rucksack packte. Dann schnappte ich mir so schnell es ging meinen eigenen vom Boden - ich hatte die ganze Stunde keinen Finger gerührt, um Hefte, Bücher oder gar Stifte daraus hervorzuholen - schwang ihn um die Schulter und machte mich hastig auf den Weg zu meiner zweiten Unterrichtsstunde. Als nächstes stand Musik auf dem Plan, eines meiner Lieblingsfächer, zu dem ich auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Außerdem hatte es sich Draken, weil es von seinem Stundenplan her wohl günstig lag, zur Gewohnheit gemacht, mir Montags in der ersten Zwischenpause der Stunden aufzulauern und sich auf seine flirtende Art über mich lustig zu machen. Und es war wohl überflüssig, zu sagen, dass ich das nach Möglichkeit vermeiden wollte.
Als ich das Klassenzimmer verließ, bekam ich gerade noch flüchtig mit, wie Miss Haylyn Eathen zu sich nach vorne ans Pult rief. Er und Taryn tauschten einen kurzen Blick. "Geh du schonmal vor", bot er an, "Du hast jetzt Mathematik, richtig?" Taryn antwortete mit einem schmerzlichen Grinsen. "Ich fürchte, damit liegst du richtig...Bis hinterher, Bro." Und damit ließ er Eathen stehen und zog an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Ich folgte ihm durch die Tür in den Gang, wobei meine Augen noch einen kurzen Moment auf Eathen lagen, bevor ich mich mit einiger Anstrengung von ihm abwandte und bestimmt meine Schritte beschleunigte.
Doch trotz allem konnte ich nicht leugnen, dass der neue Schüler ein weiteres Mal meine Neugier geweckt hatte. Es war sicher nichts weiter als eine belanglose Kleinigkeit, die Miss Haylyn mit ihm zu besprechen hatte, aber das konnte mich nicht davon abhalten, es unbedingt wissen zu wollen, einfach weil es ihn betraf.
Ich war so versunken in meine widersprüchlichen Gedanken, dass ich nicht mitbekam, wo meine Beine mich hintrugen, bis mich das allmähliche Verstummen des Fußgetrappels und der Gespräche der anderen Schüler ringsum wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Einigermaßen entsetzt musste ich feststellen, dass ich mich keineswegs vor der Tür meines Musikklassenzimmers oder überhaupt in dessen unmittelbarer Nähe befand, sondern geradewegs in Richtung der Sporthalle gestapft war, neben der auch die Sprach-Klassenzimmer lagen. Was an sich ja normalerweise kein Problem darstellen würde, da dieser Gang mittlerweile relativ verlasssen war - wenn ich nicht wüsste, dass eine ganz bestimmte Person, der ich jetzt ganz sicher nicht über den Weg laufen wollte, hier in der ersten Stunde Französisch-Unterricht -
"Na, wen haben wir hier... Hey, Jowett, meine Süße, wie lieb von dir, von selbst bei mir vorbeizuschauen. Dann muss ich dich nichtmal mehr suchen. Zu lächerlich, dass ich sonst immer den Eindruck hatte, du würdest dich um diese Zeit vor mir verstecken." Ich schluckte kaum hörbar und als ich mich umdrehte, wohl wissend, wie dashier ausgehen würde, blickte ich direkt in die mir einen Würgereiz verursachenden, braun-grauen Augen eines schelmisch-arrogant grinsenden Draken MCee. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich ihm jetzt die erste, spöttisch-sarkastische Bemerkung entgegengeschleudert, die mir einfiel und die mich obendrein verteidigt hätte - "Aber MCee, wo hast du denn deine kleinen Kumpels gelassen? Wer lacht denn jetzt über deine lahmen Witze? Also, wenn du glaubst, nur weil du dich ohne deine Bodyguards an mich herantraust, übernehme ich diesen Part, hast du dich aber gewaltig geschnitten." schien mir eine gute Option zu sein - aber gerade fühlte ich mich aus irgendeinem Grund nicht stark genug dafür. Vielleicht hatte es ja etwas mit dem schlimmen Schmerz zu tun, der seit gestern von meinem linken Unterarm ausging, für dessen Ursprung ich allerdings bisher keinen Gedanken übrig hatte.
"Bitte, Draken, jetzt nicht, ich hab' es wirklich eilig. Ich bin in letzter Zeit schon so oft zu spät zu Musik gekommen und fürchte, dass man es mir heute nicht mehr ohne Konsequenzen durchgehen lassen wird", erklärte ich schwach, doch schon bevor ich ausgesprochen hatte, konnte ich an Drakens Gesicht wie an einem offenen Buch ablesen, dass es keinen Zweck hatte. Drakens Grinsen vertiefte sich und er trat ein paar Schritte näher an mich heran, sodass er jetzt nur noch wenige Meter von mir entfernt war. Ich wich automatisch zurück und hob abwehrend die Hände, doch entweder bemerkte er es nicht oder es kümmerte ihn nicht, denn er kam immer weiter auf mich zu und ich machte für jeden Schritt, den er sich mir näherte, zwei zurück.
Draken lachte leise. "Aber was ist denn, Süße, möchtest du mir nicht wenigstens einen kleinen Kuss geben? Ich weiß genau so gut wie du, dass kein Mädchen mir widerstehen kann, auch nicht du", säuselte er. Mir drehte sich der Magen um. Nicht nur aufgund seiner Worte oder dem mangelnden Sicherheitsabstand zwischen uns, sondern auch weil ich, als ich noch weiter zurücktrat, mit dem Rücken gegen etwas hartes stieß: Die Backsteinmauer an den Seiten des Ganges. Wie klischeehaft.
Ich erschauderte. Um keinen Preis wollte ich, dass Draken mir noch näher kam als auf den Meter Abstand, der uns noch trennte. So weit hatte er sich mir in den zwei Jahren, in denen er mich schon regelmäßig anmachte, noch nie aufgedrängt. Entweder war glücklicherweise immer etwas dazwischen gekommen oder ich hatte mich selbst gegen ihn zu verteidigen gewusst.
Nur leider fühlte ich mich dazu gerade absolut nicht in der Lage, wusste ich doch, dass er viel stärker war als ich, nicht zuletzt aufgrund des Geschlechtsunterschiedes und seiner Stellung als fähiger Sportler. Und auf eine Unterbrechung der Situation durch jemand anderen, egal wen, konnte ich wohl kaum hoffen, da weit und breit niemand zu sehen war und sich alle Schüler und Lehrer bereits zur zweiten Unterrichtsstunde in den jeweiligen Klassenzimmern eingefunden haben sollten.
Meinem Gegenüber schien das auch aufgefallen zu sein, denn er nutzte die Chance, um noch näher an mich heranzutreten und die Hände zu beiden Seiten meines Kopfes an der Wand abzustützen, sodass nur noch wenige Zentimeter zwischen meinem und seinem Gesicht lagen. "Aber dir ist doch sicher klar, dass ich dich nicht ohne ein Küsschen davonkommen lassen werde, oder? Langsam bin ich es nämlich wirklich leid, zu warten", zischte er mir fast liebevoll ins Ohr, wobei er mir so nahe kam, dass sein rauer Atem meine Wange streifte und mir erneut vor Ekel einen Würgereiz verursachte. Um keinen Preis wollte ich, dass es so weit kam. Der Gedanke, dass mein erster Kuss von diesem Idioten gestohlen werden könnte, war fast unerträglich. Und doch wusste ich, dass ich nicht in der Lage sein würde, mich dagegen zu wehren. Ich war wie gelähmt.
Und doch schien mich das Schicksal heute nicht genug zu hassen, um das geschehen zu lassen. "Hey, MCee! Lass sie sofort los! Siehst du denn nicht, dass sie das nicht will?!", durchbrach eine männliche Stimme vom Ende des Ganges die Stille und verursachte mir eine Gänsehaut. Aus irgendeinem völlig verdrehten Grund wusste ich genau, wem diese Worte zuzuordnen waren. Draken nahm abrupt die Hände von der Wand, trat hastig von mir zurück und wirbelte herum. In seiner Miene spiegelte sich Überraschung und Verwirrung. Auch ich drehte mich zu dem Neuankömmling vor uns, obwohl ich bereits eine starke Vermutung hatte, um wen es sich handelte, die auch im nächsten Moment bestätigt wurde. Wenige Meter von uns entfernt stand der neue Schüler, Eathen Harper, das eisgrüne Haar zerzauster denn je, beide Hände zu Fäusten geballt, und funkelte Draken mit glimmenden, smaragdgrünen Augen an. Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Wie konnte ein Mensch nur gleichzeitig so furchteinflößend und so gut aussehen?
Draken teilte meine Meinung zu Eathens Äußerem offensichtlich nicht. Er starrte ihn nur leicht befremdet an. "Wer zur Hölle bist du und was gibt dir das Recht, dich hier einzumischen? Und noch wichtiger, woher kennst du meinen Namen? Ich habe dich noch nie im Leben gesehen, Mann!", wollte er entrüstet wissen. Eathen lachte leise und freudlos. "Woher ich dich kenne? Ich würde sagen, du bist unverwechselbar, MCee. So großes Ego, dass ihm davon der Kopf geschwollen ist; ein muskelbepackter Macho, der nicht gerade durch Intelligenz glänzt und immer wieder Sapphire anbaggert, obwohl er genau weiß, dass sie es nicht will. Ich vermute mal, das kannst nur du sein. Ohne dir eine überflüssige Lüge aufzutischen und zu behaupten, es würde mich freuen, mein Name ist Eath Harper. Eathen für dich. Obwohl du mich unter den gegebenen Umständen sicher vorzugsweise mit meinem Nachnamen ansprichst."
Draken klappte empört der Mund auf. Er war offensichtlich sprachlos. Was auch für mich galt. Man konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es noch nie in seiner gesamten Schulzeit jemand gewagt hatte, den mit Abstand beliebtesten und gefürchtetsten Jungen und Basketball-Captain der Schule so dreist zu beleidigen. Ich musste zugeben, dass ich nicht nur völlig baff war, sondern auch so beeindruckt wie schon lange nicht mehr. Eathen war mit den ganzen anderen Spießern, die sich Schüler der Brooklyn-High nannten, wirklich nicht zu vergleichen. Und das war eines der Dinge, die mich an ihm so anzogen.
Draken allerdings würde diese Worte natürlich nicht so einfach auf sich sitzen lassen, zumal er sich in diesem Fall zweifellos für den Einflussreicheren der beiden Kontrahenten dieser Disskussion hielt. Und das sowohl verbal als auch physisch. "Ich glaube, dir ist nicht bewusst, mit wem du gerade zu reden wagst, Harper", erwiderte er mit betont ruhiger Stimme, doch ich konnte sehen, dass er am ganzen Körper vor unterdrückter Wut über Eathens Worte und seinen Auftritt, der für mich genau zur rechten Zeit gekommen war, zitterte, "Du hast nicht die geringste Chance gegen mich. Ich bin hier der Basketball-Captain und die halbe Schule steht hinter mir. Wenn du dich mit mir anlegst, bist du entweder dumm oder nicht in der Lage, dein loses Mundwerk im Zaum zu halten. Also nochmal in deutlichem Englisch, damit du mich selbst mit deinem geringen Maß an Intelligenz verstehst: Wenn du nicht deine hässliche Fresse poliert haben willst, dann halt' dich aus Dingen raus, die dich nichts angehen! Denn Saph ist ganz allein meine Angelegenheit! Wenn du etwas von ihr willst, dann rate ich dir, Leine zu ziehen, denn mit mir kannst du nicht konkurrieren. Und das gilt für jeden von euch erbärmlichen Luschen mit einer großen Klappe und nichts dahinter!"

Pakt mit dem Teufel - Der Dämon meiner Träume ⏸Where stories live. Discover now