92|nicht die Kraft dazu

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Kenan strich mir übers Haar und ich lauschte seinem Herzschlag und dem ruhigen Atem. Unser Sohn hatte das nicht. Er hatte keinen Herzschlag mehr. Ich schloss meine Augen und begann wieder zu weinen, wobei nur sehr wenige Tränen hervorkamen. Weinend schlief ich in Kenans Armen ein und fühlte mich, als würde ich endlos lange fallen und fallen. Ohne aufzuprallen, wobei ich das doch so sehr wollte.

~

Kenan

Seren trat ins Haus als ich sie aufschloss und an die Seite ging, dass sie durch konnte. Sie sah auf den Boden, doch als sie die Schritte hörte blickte sie auf. Ich kam ebenfalls hinein und schloss die Tür hinter mir. Seitdem sie im Krankenhaus weinend in meinen Armen eingeschlafen war hatte sie noch kein Wort gesprochen. Mit niemandem.
Meine Mutter trat in den Flur und blieb mit einen wehleidigen Blick vor Seren stehen. Sie hatte vor ein paar Tagen erfahren gehabt, dass Seren schwanger war. Es war nicht ganz freiwillig, doch sie wusste es und jetzt war er weg. Jetzt war es vollkommen egal ob sie es gewusst hatte oder nicht.

Keiner von uns sagte etwas. Die beiden standen sich mit einem großen Abstand gegenüber und sahen sich an. Ich wagte es auch gar nicht irgendwas zu sagen, denn ich wusste nicht, was diese Stille bedeutete. Was sie sich gerade mit den Blicken allein sagten. Plötzlich ging meine Mutter mit riesigen Schritten auf Seren zu und zog sie in ihre Arme. Seren krallte sich sofort an sie und schluchzte. Ich atmete aus und mir fiel auf, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Meine Mutter strich Seren über die Haare und Seren weinte leise.
Ich wollte ihre Tränen nicht mehr sehen.
Ich wollte nicht mehr ihr Wimmern hören.
Ich wollte nicht mehr ihr Leiden beobachten.

„Leg dich oben schlafen. Soll ich dir ein Tee machen?", fragte meine Mutter leise und zog Seren wieder von sich. Sie stand mit dem Rücken zu mir und ich konnte sehen, wie sie den Kopf schüttelte und ganz leise und langsam auf die Treppen zuging. „Soll ich-..", wollte ich anbieten mit ihr zu kommen, doch ihr Kopfschütteln stoppte mich. Wir sahen Seren hinterher und sobald wir die Tür zugehen hörten kam meine Mutter auch auf mich zu, doch legte nur die Hand an meinen Arm. Ich sah zu ihr. „Wie geht es dir?", fragte sie und ich zuckte nur mit den Schultern, denn wie sollte es mir nach diesen Erlebnissen denn ergehen? Sie seufzte und blickte auf den Boden.

„Kenan, ich habe eine Wohnung gefunden.", sagte sie und unsere Blicke kreuzten sich,„Eigentlich wollte ich schon ausziehen, aber dann ist.. das passiert und es hat sich hinausgezögert. Schafft ihr das alleine? Ich wäre euch keine große Hilfe, ich weiß, aber momentan geht es euch beiden nicht gut und ich-.." Ich senkte den Blick, hob die Hand und sie stoppte. „Schon gut. Wenn du willst kannst du gehen. Danke.", flüsterte ich mit brüchiger Stimme. Auf einmal legte sie ihre Hand auf meine Wange und ich sah sofort wieder zu ihr. „Ihr hättet so einen Schmerz niemals fühlen sollen.", flüsterte sie und es klang wirklich aufrichtig. Ich nickte nur, denn ich war mir sicher, wenn ich den Mund öffnete würde ich wie ein Kind weinen und das wollte ich nicht. Ich durfte nicht weinen. Seren ging es nicht gut, dann konnte ich mich nicht auch noch fallen lassen. Ich musste stark für uns beide sein.

[...]

Eine Woche verging seitdem wir wieder zuhause waren und Seren hatte nie das Zimmer verlassen. Zum Essen musste ich sie zwingen und auch dann aß sie nie mehr als nur zwei Löffel. Anfangs kamen alle immer her um nach uns zu sehen, aber nachdem Seren nie aus dem Bett kam, kein Wort sprach und ich nicht gerade eine einladende Haltung hatte beließen sie es, versprachen aber immer zu kommen, wenn wir sie brauchten. Das wusste ich wirklich zu schätzen. Früher hätten sie mich alle nur angekotzt und ich hätte es aufdrängend gefunden, aber jetzt verstand ich, dass sie uns nur zur Seite stehen wollten. Sie wollten uns nicht in dem Schmerz versinken lassen, aber ich glaubte es war zu spät.
Seren war schon zu tief drinnen.

Ich blickte zum Bett und Seren lag auf der Seite, den Rücken zu mir gedreht. Selbst mit mir hatte sie kein Wort gesprochen. Seit einer Woche war ich nun zuhause, aber ich musste zur Arbeit. So wenig ich es auch wollte brauchten sie mich.
Und Seren musste langsam wieder ins Leben treten. Natürlich erwartete ich nicht, dass sie supergelaunt hin und her eilte, aber sie konnte nicht ihr Leben lang im Bett liegen und nichts tun.
Tief atmete ich durch und löste die verschränkten Arme. „Seren..", kam es rauchig aus mir und ich trat an das Bett. Sie war wach. Seren starrte an die Wand und hatte die Lippen ein wenig geöffnet. Vorsichtig strich ich ihre Haare zurück, doch sie beachtete mich nicht. „Seren du musst aufstehen.", flüsterte ich und legte die andere Hand auf ihren Arm,„Du kannst hier nicht liegen bleiben. Ich muss jetzt gehen und du musst aufstehen. Du kannst nicht auf Ewig Trübsal blasen." Sie legte ihr Gewicht vor, dass meine rechte Hand von ihr rutschte. Ich seufzte. „Seren.." „Lass mich in Ruhe!", gab sie gereizt und kleinlaut zum allerersten Mal seit einer Woche von sich. Was sollte ich denn tun? Sie konnte hier nicht bleiben.

„Seren steh auf. Du wirst noch krank, wenn du so weitermachst. Du hast auch kaum was gegessen und liegst seit einer Woche nur. Du brauchst Luft, du brauchst-..", redete ich auf sie ein, doch stoppte als Seren sich wütend zu mir umdrehte und ich die Tränen in ihren Augen glitzern sah. Sie setzte sich auf und atmete zittrig. „Ich will nicht!", schrie sie mich an und stellte sich nun auf das Bett auf, dass sie ein kleines Stück größer als ich war,„Ich will nicht verstehst du das nicht? Ich will nicht mehr! Ich habe keine Kraft mehr! Ich will nicht atmen, ich will nicht aufstehen und ich will nicht raus! Das einzige was ich will ist mein Baby! Ich will mein Baby zurück!" Sie schluchzte wie verrückt und zitterte am ganzen Körper. Wut sammelte sich in mir. Was sollte ich denn machen? Verdammte Scheiße was sollte ich machen?
„Es geht aber nicht Seren!", schrie auch ich sie an, denn so langsam platzte meine Geduld,„Er kommt nicht mehr zurück, nie wieder! Versteh das und komm wieder zurück! Egal wie lange du hier liegen bleibst und trauerst er kommt nicht zurück!" Seren holte aus und wollte mir eine verpassen, aber plötzlich flackerten ihre Augenlider und sie brach zusammen. Sofort griff ich ihr unter die Arme und sank mit ihr gemeinsam aufs Bett. Ihr Kopf lag auf meiner Brust und sie weinte bitterlich.

„Aber er soll zurück. Er soll zurückkommen. Ich konnte ihn gar nicht kennenlernen.", wimmerte sie leise und krallte ihre Hand an mein Hemd. Ich drückte sie fest an mich und auch mir liefen Tränen herunter, doch ich weinte nicht. Ich versuchte es noch immer zurückzuhalten während sie in meinen Armen noch ein Stück mehr zerbrach und ich sie nicht halten konnte. Ich schaffte es nicht ihr hochzuhelfen.

Hello dearest!
Ich bin echt glücklich, dass ich das geschafft habe. Den beiden geht es immer schlechter, vor allem Seren.
Meine Musik bringt mich richtig zum trauern, also wird das hier ganz schön unschön werden. Ha! ganz schön unschön. 😂

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