6

3.5K 154 10
                                    

Während ich mich Weintrauben naschend mit Jackson Drake unterhielt, der sich mir inzwischen auch Vornamen vorgestellt hatte, kramte Dr. Stewart Sachen aus seinem Aktenkoffer hervor, die er für die weiteren Tests benötigte. Stewart hatte sogar erlaubt, dass Jackson blieb, was mich für einen kleinen Freudenssprung veranlasst hatte. ,,Okay, Aria", fing der Doktor an und kam mit nem Klemmbrett im Arm näher. ,,Welche Kräfte hast du bereits selbst an dir beobachtet?" ,,Telepathie", der Doktor nichte, ,,Davon habe ich schon gehört", ,,Und Telekinese", sprach ich zu ende. Stewart blinzelte erstaunt. ,,Ziemlich cool, oder?", kommentierte Jackson, dem ich als einzigsten bereits von dieser Kraft erzählt hatte. Stewart zeigte auf seinen Aktenkoffer. ,,Könntest du den bitte für mich bewegen?" ,,Ich kann's versuchen", meinte ich und richtete meine Hand in die richtige Richtung. Zwei Sekunden später befand sich der Aktenkoffer in der Luft.
Dr Stewart beobachtete das Spektakel mit Argusaugen. ,,Das ist unglaublich", stellte er fest und notierte sich etwas auf dem Klemmbrett. Ich ließ den Aktenkoffer wieder fallen und tauschte mit Jackson ein Lächeln aus. Da hörte ich eine Stimme aus Jacksons Kommunikator im Ohr. ,,Ich werde auf der Brücke gebraucht, also bis dann." Ich nickte dem Agent zum Abschied zu und stieg von der Liege. ,,Kann ich gehen?", fragte ich Stewart, der rasch nickte. ,,Ja, klar. Ich gebe Bescheid, falls noch was sein sollte." ,,In Ordnung, danke."

Plötzlich empfing ich eine Stimme. Nicht in meinen Ohren, sondern in meinem Kopf. Loki hat den Helm abgesetzt, stellte ich überrascht fest. Ohne weiter groß darüber nachzudenken, was sicher naiv von mir war, lokalisierte ich die Stimme, verfolgte ihre Lautstärke bis zu einer Tür.
Seine Gedanken waren verworren, verschlüsselt, durcheinander. Unmöglich zu definieren. Mit klopfendem Herzen begutachtete ich ich den Fingerabdrucksensor, auf den man die Hand legen musste, damit sich die Tür öffnete. Verdammt.
Da kam mir eine Idee. Ich hatte keine Ahnung ob das klappte, aber ... ich schloss die Augen. Mit Mühe und ruhigerem Atem versuchte ich den Mechanismus im Inneren der Tür und der Wand zu spüren. Langsam hob ich die Hand, kehrte meine Fingerspitzen langsam zur Handinnenfläche und bewegte sie beinahe rhytmisch, als die Tür sich automatisch aufschob. Mein Herz machte einen kleinen Freudessprung. Ich hatte tatsächlich den Mechanismus von innen ausgelöst - allein durch Telekinese.
Ich blickte nach vorne, und da sah ich ihn.
Loki.
Er saß in seinem runden Glasgefängnis, das er zu seiner eigenen Sicherheit nicht zerstören konnte, und er trug keinen Helm. Loki bemerkte mich, hob den Blick und ein beinahe triumphierendes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Da bist du ja. Er hatte auf mich gewartet? ,,Du kannst ruhig hereinkommen, ein Trugbild liegt über diesen Raum", versicherte er mir. Ich zögerte, beäugte in misstrauisch. Dann trat ich schließlich ein und ging auf ihn zu. Vor dem Glas hielt ich an. ,,Du hast mich hergelockt", erkannte ich und Loki hielt sein Grinsen aufrecht. ,,Aber natürlich, kleine Telepathin." ,,Wozu?" ,,Ich will nur reden", antwortete Loki auf meine harsche Frage hin und hob die Hände. Langsam war ich genervt von seinen unklaren Antworten und verdrehte die Augen. ,,Und worüber willst du reden?" ,,Über dich. Ich wollte mir ein Bild von dir machen." Ich hätte beinahe laut aufgelacht. ,,Über mich gibt's nicht viel zu sagen." ,,Wollen wir wetten?", erwiderte Loki, doch ich nahm es nur am Rande war. Ich war bereits in seinen Kopf vorgedrungen.

Ich zuckte wegen der unerwarteten Woge Schmerz, die mich durchflutete, zusammen.
Unmengen von Bildern blitzen vor meinen Augen auf, beinahe wie das Licht einer diffekten Fotokamera. Viele von ihnen waren so kurz zu sehen, dass ich mich nicht an sie erinnerte, aber manche konnte ich deutlich sehen. Ich sah einen blonden Jungen neben einem schwarzhaarigen. Das mussten Thor und Loki als Kinder gewesen sein. Ich erblickte einen einäugigen Mann, vom hohen Alter gezeichnet, und eine schöne Frau mit goldenen Locken, die mich zweifellos an das Mädchen mit dem Dolch in meinem Traum erinnerte. Aber entscheidend war das letzte Bild, auf das ich einen Blick erhaschen konnte, bevor Loki mich aus seinen Erinnerungen verbannen konnte, in dem er den Helm wieder aufzauberte.
Erschrocken hustend riss ich die Augen auf, torkelte ein paar Schritte zurück und spürte, wie Lokis qualvoller Schmerz langsam verebbte. Ich hob schwer atmend den Kopf und sah zu Loki, der mich verwirrt ansah, ausgiebig musterte, als traute er seinen Augen nicht.
,,Du", krächzte ich, gedanklich bei dem letzten Bild. ,,Ich", sagte Loki und sah verwundert zu mir. Das letzte Bild hat einen blauen Jungen gezeigt, der von dem einäugigen Mann mitgenommen wurde. Es war Lokis Erinnerung ... demnach war Loki das blaue Baby gewesen, von dem ich nachts geträumt hatte. ,,Du ... du bist nicht blau", erkannte ich, klug wie ich war. ,,Und du bist nicht nur eine Stimme, die ich mir als Kind eingebildet habe ...", meinte Loki, woraufhin ich entsetzt den Mund öffnete. ,,Du hast mich gehört? Das kann doch gar nicht sein, du bist älter als ich, und das war doch nur ...", ich nahm tief Luft, ,,Ein Traum." Ein kurzes Schweigen folgte, bei dem wir uns nur anstarrten, uns  fassungslos in die Augen sahen. Loki unterbrach den Blickkontakt, indem er den Kopf schief legte. ,,Interessant", meinte er.

,,Es kommt jemand",  flüsterte ich, als ich Natasha's Präsenz spürte. Ich drehte mich immer noch wie paralysiert um und verließ den Raum mit der Glaszelle. Als ich austrat kümmerte ich mich noch schnell um die Tür und schlug dann den Weg in mein Zimmer ein. Dort lehnte ich mich an die Tür und starrte nachdenklich in die Leere.
All diesen Schmerz, der mit Lokis Erfahrungen verbunden war, ließ mich nicht los. Vielleicht war Loki nicht so kaltherzig und böse, wie er nach außen hin wirkte, oder vorgab zu sein. Was, wenn hinter der Fassade ein guter Loki steckte? Möglicherweise war Loki nur verletzt und fühlte sich unverstanden ... ich versuchte mir die einzelnen Bilder vor die Augen zu holen, nur war es schwerer, als gedacht. Sie waren teils sehr verschwommen, einige waren so schmerzhaft, dass sie nur verschwommen waren.
Ich entschied mich auf ein Bild zu konzentrieren, das besonders düster war. Ich schloss die Augen, fixierte mich auf die Farben, malte sie aus, auf die Umrisse. Dann sah ich immer deutlicher einen Mann. Er war milchblau und nicht gerade ein Modell: Die Zähne schief, er trug eine dunkle Kopfbedeckung, die keinen Blick auf die Augen gewährte. Wer war das? Das Bild wurde beweglich. Der Mann trat näher auf Loki zu, dessen schleierhafte Gestalt immer mehr Form annahm. Der Blaugraue umrundete Loki, als er ohne Vorwarnung die Hand an seine Schläfe legte. Ich hätte vor Schmerz fast aufgeschrien, konnte jedoch rechtzeitig meine Hand auf den Mund pressen. Mein Herz hämmerte schmerzvoll gegen die Rippen, mein Atem rasselte. Was, wenn der eigentliche Drahtzieher hinter dem Diebstahl des Tesseracts steckte? Um den anderen davon zu erzählen, lief ich zu Banner's Labor, wo mein Vater und eben auch Banner sein müssten.

Ich befand mich bereits auf halben Weg zum Labor, als ich einen ohrenbetäubenden Knall hörte. Ein Ruck ging durch den Helcarrier, woraufhin ich den Boden unter den Füßen verlor. Ich fiel hart auf die Knie, da realisierte ich, wo die Explosion stattgefunden haben musste. Nein ... Ich stand genauso schnell wieder auf, wie gefallen war, und hetzte durch den Gang, bis ich im Labor ankam ... oder was davon noch übrig war.

Scherben sprenkelten den Boden, Rauch hing in der Luft, die Hitze zauberte ein paar Schweißperlen auf meine Stirn. ,,Dad?", rief ich und wartete auf eine Antwort. ,,Mir geht's gut, Aria. Verschwinde von hier." Das war eindeutig Tony.
Aber anstatt seinem Befehl nachzugehen, lief ich in den Rauch und entdeckte ihn und Steve, die sich beide aufrappelten. Zum Glück schienen sie nicht ernsthaft verletzt zu sein.
,,Ziehen Sie den Anzug an", meinte Steve zu meinem Dad, der ohne zu zögern ein ,,Ja", erwiderte. Da entdeckte Tony mich. ,,Aria, geh' hier weg, sofort", sagte er mit scharfen Tonfall. ,,Wo soll ich denn bitte hin?", fragte ich hysterisch und fügte hinzu: ,,Wir befinden uns in dreißigtausendmeter Höhe!" ,,Geh zur Brücke", meinte Steve auf einmal. ,,Dort ist es am sichersten." Mein Dad nickte zustimmend mit dem Kopf. ,,Geh am besten zu Coulson, versprochen?" Um die beiden nicht weiter aufzuhalten, antwortete ich: ,,Na schön, versprochen." Während die beiden zum Ausgang des Helicarriers eilten, drehte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und wollte gerade aufbrechen, als sich eine unbeschreibliche Angst in meinen Kopf schlich. Aber es war nicht meine. ,,Nat", flüsterte ich und trat zurück ins kaputte Labor, hielt mir den Ärmel vor den Mund, um nicht zu fiel rauch einzuatmen. Ich sah nach unten, wo die Glasscheibe einst war. Dort entdeckten meine Augen die Agentin, die sich gerade von einem Trümmerteil befreien konnte. Dann rannte sie los und ich verlor sie aus dem Blickfeld.
Ein grauenvolles Brüllen hallte in meinen Ohren wieder.

Das war eindeutig der Hulk. Hin- und hergerissen zwischen dem Versprechen, zur Brücke zu gehen, und dem Verlangen, Natasha zu helfen, die so etwas wie eine gute Freundin für mich war, starrte ich in den Abgrund. Ich wusste, würde ich jetzt zur Brücke gehen, würde ich mich schuldig fühlen, aber was konnte ich denn schon gegen den Hulk ausrichten? Andererseits, was konnte Natasha gegen ihn ausrichten? Sie war zweifellos die stärkste und geschickteste Frau und Agentin die ich kannte, aber sie verfügte nicht über übermenschliche Fähigkeiten. Ich beherrschte meine zwar kaum, dennoch, es war meine Pflicht, zu helfen. Ich nahm zwei Schritte Anlauf und sprang.

Aria Stark - The beginningWhere stories live. Discover now