Rückzug und Heimat

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Ich habe mehr als nur Angst. Ich habe Hoffnung. Hoffnung, dass ich hier nicht sterben werde. Oder zumindest dann gemeinsam mit Tim. Mit jemandem, der mich vier Monate nicht im Stich gelassen hat. Oder auch kürzer. Keine Ahnung, wie die Zeitrelation ist. Wieder sehe ich zu Brian runter. Er stinkt noch mehr als ich es wahrscheinlich tue. Sein Bart ist ungepflegt und lang. So wie seine Haare. Er muss ein Jahr hier drin gewesen sein. Ungefähr. Eine dicke Dreckschicht ist zu sehen. Die Kleidung mehr als nur zerfetzt. Von der ursprünglichen Farbe ist nichts mehr zu sehen. Oder nur zu erahnen.

Ein lautes Krachen aus Richtung des Schlosses ist zu hören und ich sehe dort hin. Zumindest in die Richtung, da der Hügel die Sicht darauf versperrt. Was ist passiert? Geht es den Brüdern gut? Hat Zalgo sie erwischt? Immer wieder kracht es und schlussendlich gibt es einen lauten Knall, als würde etwas zusammen fallen. Meine Stirn legt sich in Falten. Sorgen. Im Moment werde ich von vielen Emotionen gleichermaßen übermannt und überflutet. Dinge, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Gefühle. Etwas, was ich tief in mir vergraben habe. Aus Selbstschutz. Weil es mir nichts gebracht hat, diese Dinge zu haben.

Urplötzlich tauchen drei große Gestalten auf und ich reiße meinen Kopf nun in diese Richtung. Slenderman mit seinen beiden Brüdern. Ich bin erleichtert. Aber auch gleichzeitig besorgt. Wieso sind sie hier? Was ist mit Zalgo passiert? Als würden alle auf ein Kommando hören, ziehen sich die Creepypasta zurück. Die ersten Laufen an uns vorbei und durch das Portal. Rückzug? Perplex bleibe ich sitzen, während alle an Brian und mir vorbei rennen. Mein Hirn ist im Moment leer. Ich sollte aufstehen und Brian mit hoch hieven, um mit ihm auch durch das Portal zu laufen! Aber ich kann mich nicht bewegen.

Slenderman kommt auf mich zu und nimmt uns beide hoch. Vorsichtig drückt er uns an sich und lässt die letzten durch das Portal laufen, ehe er als Schlusslicht folgt. Mir wird leicht schlecht und sofort wird es kalt. Ich bekomme Gänsehaut und kugle mich ein wenig zusammen. Zittere. Ich muss ein paar Mal blinzeln, ehe ich mich ängstlich umsehen kann. Es ist dunkel. Aber ich kann ein bisschen was sehen. Erkennen. Sofort entspanne ich mich, als ich die Villa sehen kann. Das Zuhause der Creepypastas. Ich lasse mich gegen Slendermans Brust sinken und schließe die Augen. Der lange Albtraum hat ein Ende.

Er bringt mich in das Gebäude und sofort zu EJs Zimmer. Dort stapeln sich alle und ich werde herunter gelassen. "Ich... habe keine Verletzung. Kümmere du dich um die anderen. Ich würde dich nur um eine Ibu bitten. Das wärs.", sage ich zu dem blau maskierten und er nickt, ehe er mir sogar eine ganze Packung mitgibt. Ich nicke ihm ebenfalls zu und gehe langsam und halb torkelnd aus Jack's Zimmer. Lasse mich nur neben seiner Tür auf den Boden sinken und lehne mich gegen die Wand. Mir ist immer noch leicht kalt. Mein Blick ist leer.

"Alex!", ertönt ein besorgtes rufen und ich drehe leicht meinen Kopf. Tim läuft zu mir und kniet sich zu mir runter. "Alles in Ordnung bei dir? Gehts dir gut? Ich bring dich zu EJ!" Ich schüttle leicht den Kopf. "Alles gut. Müde. Stinkend. Kann ich dein Bad benutzen? Und deinen Kleiderschrank ausräumen?" Der braunhaarige ist leicht perplex. Doch dann gehen seine Mundwinkel hoch. "Klar. Komm mit.", meint er sanft und hilft mir beim aufstehen. Langsam und mit seiner Hilfe schaffe ich es, bis zu seinem Zimmer zu kommen. "Du duschst und dann lasse ich dir ein Bad ein. Keine Widerrede, ist das klar?"

Ich drehe mit halb offenen Augen meinen Kopf und lächle leicht. "Ich liebe dich auch, Tim." Seine Mundwinkel gehen nach unten. "Hast du eine Ahnung wie sehr ich mich zusammenreißen muss? Verfickte Scheiße... ich würde dich jetzt abknutschen bis du keine Luft mehr kriegst.", knurrt er und mein lächeln wird ein wenig breiter. Scheiße man... ich habe ihn vermisst. In seinem Zimmer angekommen, werde ich sofort in das Bad gebracht. Ich kann alles benutzen was ich will und er gibt mir sogar eine seiner Ersatz-Zahnbürsten. Die Kleidung ziehe ich bis auf die Unterwäsche vor ihm aus und er sieht nur abfällig auf den kleiderhaufen.

"Ich werde dir alles herrichten. Genieß du mal wieder Wasser. Um ehrlich zu sein stinkst du wirklich.", brummt er und ich nicke. "Ich weiß...", erwidere ich leise, gehe ich das Bad und ziehe auch dort erst einmal alles aus. Es ist ekelhaft. Die Tür geht einen Spalt auf und er hält mir eine Mülltüte hin. Zumindest sein Arm. "Hier. Schmeiß dein anderes Zeug da rein. Das wird verbrannt." Ich tue, wie mir geheißen wurde und schon bin ich wieder allein. In einem Bad, dass dreimal so groß wie meine Zelle der letzten vier Monate war.

Die Dusche stelle ich auf ganz heiß und muss zugeben, dass es trotzdem nur lauwarm für mich ist. Aber das ist egal. In den ersten Minuten ist wirklich nur Dreck zu sehen, der den Abfluss hinunter spült. Ich benutze sein Shampoo und sein Duschgel. Mehrfach. Bis ich wieder einigermaßen sauber bin. Ich kann meine Haare wieder normal spüren. Es ist kein großes Gewirr mehr. Das ist eines der Vorteile, wenn man kurze Haare hatte. Sie werden nicht so schnell eine ekelhafte Matte auf dem Schädel, wenn sie für längere Zeit nicht gepflegt werden. Klar sind die Haare länger geworden und gehen mir bis zu meinen Schultern.

Aber schlimm sind sie nicht. Nach dem Duschen trockne ich mich nicht ab, sondern gehe zum Waschbecken und putze mir die Zähne, während ich mir die hälfte meiner Haare beim Versuch ausreiße, sie zu kämmen. Knötchen haben sich gebildet. Viele klebten zusammen. Aber als ich fertig bin, sind sie wieder glatt. Für mich fühlen sie sich samtig an. "Alles klar bei dir?", ruft Tim's besorgte Stimme auf einmal und ich spucke die Zahnpasta aus. "Ja.", erwidere ich nur und mache weiter damit, mir meine Beißerchen zu schrubben. Ekelhaft, wenn man so lange keine Zähne putzen kann. Ekelhaft. Als ich mich im Spiegel ansehe, bin ich von mir selbst ein wenig erschrocken.

The lost friend 2Where stories live. Discover now