Kapitel 6: Der Strand der verlorenen Erinnerungen

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Tief gruben sich ihre Schuhe in den farblosen Sand, dessen Oberfläche mit einer Schicht aus Staub und Asche überzogen war, in der sich die Überreste einer vergangenen Zivilisation finden ließen. Sie waren schon einige Stunden unterwegs gewesen und Claris hatte sich viel mit Mond unterhalten. Über seine Ausbildung als Wächter und was es genau hieß, ein Wächter zu sein.

Sie kannte die Wächter zwar, aber hatte sich noch nie mit einem unterhalten. Seit der großen Schlacht waren ohnehin ja kaum noch welche am Leben.

„Es macht einen schon nachdenklich", sagte Claris, nachdem sie alle drei für eine Weil schweigend nebeneinander hergegangen waren.

„Was meinst du?", fragte Mond.

„Es ist nur", begann sie und grübelte kurz, „manchmal frage ich mich, welche Erinnerungen in dieser Asche und in den Trümmern versteckt liegen."

Mond und Schatten schwiegen. Schatten, weil er das ohnehin tat und Mond, weil er nachdenklich wurde. Claris bückte sich nach den Überresten eines Stück Papiers, dass sie in der Asche ausmachen konnte. Doch als sie es anheben wollte, zerbröselte es in ihrer Hand.

„Ich frage mich, was wohl auf diesem Papier stand. Vielleicht war es ja die erste Seite einer Zeitung, oder die letzte Seite eines Tagebuchs", überlegte Claris laut.

„Wir werden es nicht herausfinden", sagte Schatten kalt und beschleunigte seinen Gang. Doch als er mit seinem Schuh die Überreste eines Buches zerbrach, wurde auch er nachdenklich.

Was war das für ein Buch? Es waren vielleicht die Gedanken einer Person in ihren letzten Tagen. Was war dieses Stückchen Asche mal gewesen und welche Geschichten hält wohl der Rest von Staub und Asche bereit, unter dem Erinnerungen an Freude und Spaß, tief vergraben im Sand, lagen.

Schatten ging wieder langsamer. Nachdenklich blickte er über den Strand, der zu seiner Rechten, nach etwa zwanzig Metern, vom Meer abgelöst wurde, dessen immer wiederkehrende, unbeirrt fortdauernde Wellen, die Erinnerungen nach und nach davontrugen und sie auflösten, oder auf dem Grund ihrer Wässer vergruben.

Er schaute auf seine Stiefel, die tief in den Erinnerungen steckten und er fühlte sich schuldig, sie so unbedacht zu zertreten. Natürlich war es kindisch, denn wie will man Asche schon zerstören, aber es traf ihn, auf seltsame Weise.

Ein Schrei, ein Blick nach Westen. Greyhands liefen auf die drei Gefährten zu, Schrotflinten und Knüppel in der Hand.

Schatten und Mond reagierte, wie erwartet, schnell. Der erste Greyhand fiel schon nach wenigen Sekunden. Claris war überfordert und verhielt sich unbeholfen. Bis sie ihr Jagdgewehr gezückt hatte, hatte Schatten schon zu seinem Katana gewechselt und jetzt stellte auch Claris fest, dass die Angreifer schon viel zu nah waren und schockierte blickte sie in den Lauf einer abgesägten Schrotflinte.

Noch schockierter war der Gesichtsausdruck des Greyhand, als das klirrende Geräusch von Schattens Klinge sein miserables Leben beendete.

Der blutverschmierte Körper fiel leblos auf die Ascheschicht und färbte die Erinnerungen unter sich blutrot. Röcheln entwich das Blut der Kehle dieses Mannes, der den Greyhands vielleicht ja nur aus Not und nicht aus wirklicher Überzeugung beigetreten war. Er presste seine Hand auf die Wunde, als würde er versuchen, es davon abzuhalten, seinen Körper zu verlassen. Beinahe schon schien es, als würde er es anflehen, nicht zu gehen, denn er betrachtete die Blutlache unter sich mit einem Glanz in den Augen, der seine Angst offenkundig machte.

Doch nicht lange konnte er die Blutlache betrachte. Zum einen nicht, weil sich sein Blut durch die staubigen Erinnerungen fraß und sie dabei auflöste, nur um dann selbst von dem darunter befindlichen Sand aufgesogen zu werden, zum andere nicht, weil die Anhänger seiner Gruppierungen, blind für seine Note, mit ihren schwere Stiefeln auf seine Wirbelsäule tragen, die mit einem knackenden Geräusch, zerbrach. Splitter der Knochen verbreiteten sich in seinem Körper und schnitten durch seine Organe. Mit letzter, verbliebender Kraft, streckte er seine Hand aus, hob sie zum Himmel und langsam wich die Helligkeit der schwachen Sonnenstrahlen, der ewigen Taubheit, die ihn für immer empfing.

Schattens Katana schnitt weitere Kehlen durch, stieß in Lungenflügel und stattete zahlreichen Magengruben einen Besuch ab.
Claris, hatte sich auf Grund ihrer Verletzung, aus dem Kampfgetümmel gestohlen und hielt sich nun etwas Außerhalb aus und sah Schatten dabei zu, wie er seine Feinde abschlachtete, die einer nach dem anderen zu Boden fielen, und dort ihre Lebenskraft verloren.

Unter der Kapuze des Schattens erkannte sie nur reine Disziplin, reine Kontrolle und reine Konzentration. Sie verlor sich in dieser Aufführung, die ihr vom tanzenden Schatten dargeboten wurde und bemerkte gar nicht, dass einer der tot geglaubten, erstaunlich lebendig, seine Waffe in ihre Richtung hob.

Der Mann, der seine Waffe unter größten Bemühungen gehoben hatte, zielte nun auf dieses Weibsbild, das ihn gar nicht bemerkte. Zumindest sie würde er mitnehmen. Zumindest sie.

Dann spürte er den kalten Stahl, der zwischen seinen Schulterplatten hindurch in sein Fleisch eindrang, und mit einer unglaublichen Präzision sein Herz traf. Im letzten Moment aber drückte er ab und hoffte, die Frau zu treffen.

Claris spuckte Asche. Mond hatte sie zu Boden geworfen, damit sie die Salve von Bleikugeln nicht durchlöchern würde, vorher hatte Schatten sein Messer nach dem Mann geworfen und kämpfte nun schon wieder mit seinem Katana weiter.

„Alles in Ordnung?", fragte Mond, völlig außer Atem.

Claris nickte nur kurz. Sie musste lernen, sich besser zu konzentrieren. Mond sprang wieder auf und streckte ihr die Hand hin, die sie schnell ergriff. Er nickte ihr zu, richtete die schwere Spaltaxt in seiner Hand und machte sich wieder auf den Weg in die kleine Schlacht.

Mit einem schmatzenden Geräusch, wie wenn ein fetter Mann durch Matsch geht, spaltete Mond das Gesicht seines ersten Feindes in zwei Hälften.

Er lachte und wirbelte herum und traf mit der Rückseite der langen Axt die Magengrube eines alten, gebrechlichen Mannes. Der Schlag schleuderte den Mann zu Boden und recht schnell hatte Mond ihn enthauptet.

Claris konzentrierte sich. Aus ihrem Mantel hervor zog sie ihre Pistole und schoss auf eine Frau, die mit einem Brecheisen in der Hand, auf Mond zulief.

Sie fiel in den Aschestrand und spuckte aus, ihr Bein blutete und ihre Schmerzensschreie übertönten den restlichen Kampfeslärm.

Mond beendete schnell das Leben der jungen Frau und nickte Claris dann dankend zu.

Und dann war es plötzlich vorbei.

Es roch nach Tod. Tod hing in der Luft, er versteckte sich in der Asche, im Sand und im Meer. In diesem kurzen, unwirklichen Moment nach der Schlacht war nichts so wirklich wie der Tod.
Schallendes Gelächter vertrieb den Gedanken daran. Schatten konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er das Gesicht seines Freundes sah, der vor Lachen kaum noch stehen konnte. Für einen Moment zögerte Claris und blickte verwirrt zu dem Mann mit der blutverschmierten Axt in der Hand, dann fiel auch sie in sein Lachen ein. Es war ein Lachen der Erleichterung; sie waren noch am Leben.

Um sie herum lagen die Körper von mindestens zwanzig Greyhands, doch sie freuten sich. Sie waren es nicht, die da in der Asche lagen. Mond kam auf Claris zu und sie fielen sich vor Erleichterung in die Arme. Dann blickte Claris zu Schatten, der dabei war, die Leichen nach wertvollen Dingen zu durchsuchen.

Während sie auf Schatten zuging, konnte sie ihr Grinsen nicht mehr abschütteln.

„Ich bin froh, dass du noch am Leben bist", sagte Schatten, ohne von der Leiche, die er gerade durchsuchte, aufzublicken.

„Das habe ich euch Beiden zu verdanken", erwiderte Claris.

Schatten stand auf und wandte sich ihr zu.

„Du hast gut gekämpft. Du musst nur lernen, dich zu konzentrieren."

Claris nickte und dann begann sie wieder zu lachen und fiel Schatten um den Hals.

Zairas SchattenWhere stories live. Discover now