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"Guten Morgen, Dornröschen." Ich hörte die Worte ganz dicht an meinem Ohr. Langsam drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und wo ich auch Körperwärme spürte. Etwas zog sich um meinen Hals. Ich machte die Augen ein Stück auf und blinzelte in seine braunen Augen. Ich lag auf seinem Oberarm, sein Gesicht war leicht über meinen Kopf gebeugt. Scheu überkam mich. Was, wenn ich alles nur geträumt hatte? Sein Blick veränderte sich, er kniff die Augen zusammen. "Alles gut. Ich tu dir nichts." Er gab mir einen scheuen Kuss auf die Stirn und hielt dann etwas mehr Abstand. "Chris? Wo.. wo bin ich." "Ein Lächeln zuckte über seine Lippen. "Bei mir. In meinem Bett. Tut dir was weh? Ist etwas nicht in Ordnung?" Sehr besorgt runzelte er die Stirn. "Ich habe das also nicht geträumt?" Er schüttelte den Kopf. Erleichtert atmete ich auf. Allerdings konnte ich es nicht ganz glauben. Gedankenversunken zupfte ich an dem Stoff seines Shirts herum. Und jetzt? Ich fragte mich, wie  es jetzt weitergehen sollte. Er legte seinen Kopf wieder auf das Kissen zurück und musterte mich interessiert. "So locker kenne ich dich ja garnicht" flüsterte er mir zu. Ich lief rot an und drehte mich noch weiter zu ihm, um mein Gesicht an ihn zu pressen. Die Nähe zu einem anderen Menschen, gerade die körperliche Nähe, so wie es jetzt war, taten mir unheimlich gut. Er durfte mich nur nicht bedrängen. Das tat er auch nicht. Er streichelte mir über den Rücken, während ich dicht an seine Seite gekuschelt wieder einschlief.

Als ich wieder wach wurde, war ich alleine in dem großen Bett. Ich rappelte mich auf und schlich leise ins Badezimmer. Dort stand nun eine zweite Zahnbürste. Ich machte mich frisch. Unsicher sah ich mich um. Ich trug nur ein Shirt. Aber ich würde mir gerne etwas Anderes und vorallem Frisches anziehen. Als ich aus dem Bad trat, hörte ich Chris in der Küche leise singen. Ich folgte der Stimme und sah, wie er an der Kaffeemaschine hantierte. Auf dem Tisch lag ein Block Papier mit wildem Gekritzel und ein paar Stifte.  Als er sich mit einer Tasse in der Hand umdrehte, erschrak er und verschüttete Kaffee auf dem Boden. Er stellte die Tasse ab und kam zu mir. "Da bist du ja. Ich muss mich erstmal dran gewöhnen, dass du hier bist und rumläufst." Wie selbstverständlich nahm er mich in den Arm. "Hast du vielleicht daran gedacht, dass ich Klamotten brauche und welche von mir geholt?" fragte ich ihn vorsichtig. Ich wusste ja bereits, das er nicht dumm war. Er grinste mich an. "Die Tasche steht noch im Flur. Hat Bärbel mir gepackt." Ich nickte dankbar. Doch ich konnte mich aus seinem Griff nicht befreien. Er sah mich wieder so durchdringend an. "Darf ich dich küssen?" Die Frage traf mich unvermittelt. Ich riss die Augen erstaunt auf. Dann lief ich knallrot an. "Seit wann fragst du?" Er zuckte die Schultern unmerklich und senkte seine Lippen ohne weitere Nachfrage auf meine.

Ich bekam eine Tasse Kaffee und setzte mich an den Tisch. Aus der Tasche hatte ich mir frische Unterwäsche, Hose und Pulli geholt und Bärbel hatte auch an ein paar Toilettenartikel gedacht. Mein altes Handy ging nach mehreren Versuchen endlich wieder an. Ich rief kurz bei Bärbel an und meldete mich lebendig zurück. Bernd ging es zuhause auch besser. Er hatte sich ebenso schreckliche Sorgen gemacht und sprach auch kurz und väterlich mit mir. Ich ließ mich dazu überreden, noch einige Tage hier zu bleiben. Bis es mir wieder richtig gut ging. Dann wählte ich mit zitternden Fingern die Nummer vom Krankenhaus. Chris sah von seinen Skizzen auf und griff beruhigend nach meinem Arm. Ich wurde auf die Station durchgestellt und bekam die Info, dass es meiner Schwester unverändert ging. "Ich kann dich hinfahren. Ich hab Zeit. Wir haben ja Urlaub." Chris sah mich konzentriert an, so, als ob er meine Gedanken lesen wollte. Stimmte ja, er hatte ja seine angekündigten drei Wochen Pause.  "Ja, ich will zu ihr." Später stand ich vor der Intensivstation. Zitternd versuchte ich, die Tür zu öffnen. Chris nahm meine Hand und drückte den Türgriff hinunter. Marie lag noch immer da, wie schon seit Wochen. Ihr Gesicht war verkrampft. Ihre roten Haare lagen in Strähnen auf ihrem Kopfkissen. Sie roch nach Baby. Man hatte sie wohl erst vor kurzem gewaschen. Chris zog einen zweiten Stuhl an das Bett und drückte mich dann auf einen der Stühle. Er saß vor mir und hielt meine Hand. "Rede mit ihr. Es wird ihr helfen." "Woher weißt du das?" "Weil ich daran glaube. Sie ist deine Schwester, in ihren Adern fießt auch dein Blut." Ich schloss die Augen, denn sie wurden erneut feucht. Chris drückte meine Hand und legte meine andere Hand auf Maries Hand. Er lächelte mir aufmunternd zu. "Was soll ich denn sagen?" "Das, was dein Herz dir sagt." Ich schluckte, dann sah ich von ihm zu Marie hinüber. "Marie?" Chris massierte meine Hand, die in seiner lag. "Marie, ich bin wieder da. Hörst du mich überhaupt? Ich liebe dich. Bitte verlass mich nicht auch noch." Tränen rannen über mein Gesicht.  Ich stand auf und wollte hier raus. Doch er hielt mich fest. "Du bleibst jetzt bei ihr. Ich muss mal kurz wohin." Als er draußen war, nahm ich erneut die Hand meiner kleinen Schwester und sah sie an. "Bitte geh nicht zu Mama und Papa." Ich schluchzte. "Dein Chef ist übrigens so nett, mir zu helfen. Du hast so ein Glück in deinem Leben. Ich hoffe, es verlässt dich jetzt nicht." Als Chris wieder da war, stand ich auf, bereit, zu gehen. "Und? Hast du ihr von uns erzählt?" "Uns?" "Ja. Das hatten wir doch gestern gesagt: Es gibt bereits ein WIR." "Wenn sie das jetzt mitbekommen würde, würde sie mich lauthals auslachen." Wir sahen beide zu ihr hinüber. Und was ich sah, ließ mein Blut in meinen Adren gefrieren. Panisch sah ich Chris an.

VergessenWhere stories live. Discover now