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Der Saal war nicht voll, doch lachen mussten an bestimmten Stellen alle. Glücklich. Ich spürte Glück in mir. Unfassbares Glück. Seinen Arm hatte er um meine Schulter gelegt. Unsere Sitze hatten keine Armlehne dazwischen und er zog mich Stück für Stück näher zu sich. "Wie lange warst du schon nicht mehr im Kino?" fragte er leise. "Weiß nicht. Da war ich noch keine 16." Er sah mich aus großen Augen an. "Du warst nicht mit diesem Typen im Kino?" "Nein, ich war noch nie mit einem Mann im Kino. Oder Essen. Oder so." Betreten sah ich zu Boden. Das war mir unangenehm. Schließlich hatten wir heute schon zwei Dinge getan, die ich noch nie getan hatte. "Dann hast du ja noch nie im Kino geknutscht!" Noch ehe ich mich versehen konnte, rutschte sein Arm runter an meinen Rücken und die andere Hand drehte mein Gesicht zu ihm. Dann küsste er mich einfach. Mit roten Wangen lösten wir uns wieder voneinander. Panisch sah ich mich um. Doch niemand sah zu uns rüber. "Das kriegt hier niemand mit. Außerdem ist das doch normal" flüsterte mir Chris ins Ohr und gab mir einen Kuss auf die Wange.  Ich legte den Kopf an seine Schulter. Als sich die Hauptfiguren im Film dann endlich bekamen und küssten, sah ich auf mehreren Plätzen knutschende Paare und grinste etwas. Doch er hatte das Gleiche vor. Noch während ich den Blick schweifen ließ, zog er mich erneut näher heran und sah mir in die Augen. Wie von selbst schloss ich meine Augen und ließ es zu. Nach dem Kino brachte er mich nach Hause. Die Begründung dazu machte mich allerdings sehr verlegen. Kurz davor hatte er mir erklärt, dass er unsicher war, wie es weiterhin um seine Selbstbeherrschung bestellt war, wenn ich jetzt auch noch neben ihm schlafen würde. Dabei hatte selbst er etwas verlegen weggeschaut. Es war nicht mehr viel übrig von dem aggressiven und äußerst umtriebigen Mann, der mich vor ein paar Monaten von der Bank vertrieben hatte. Bärbel machte die Tür auf, als ich gerade ins Treppenhaus trat. Sie wollte natürlich wissen, ob Chris mich nach Hause gebracht hatte und wie es lief. Mit mütterlicher Neugier schenkte sie mir Tee ein und ließ sich erzählen, was wir gemacht hatten. Nie hatte ich mit Ihnen darüber gesprochen, was gewesen war. Über das, war mit mir geschehen war. Aber die Narben hatte Bärbel auch gesehen. Und sie war dabei schneeweiß geworden. Bevor sie mich nach oben entließ, gab sie mir noch einen Satz mit auf den Weg: "Ich denke, er kann deine Wunden ausbessern, vielleicht sogar heilen." Ich lächelte schwach und stieg dann die Treppe hoch. Chris hatte mir noch eine Gute-Nacht-Nachricht geschickt. Ich konnte es garnicht fassen, was ich heute erlebt hatte. Wie schön es gewesen ist, Burger zu essen. Und dann ins Kino. Ich erinnerte mich gerne daran, wie meine Mutter mit mir und Marie damals ins Kino gegangen ist, wenn ein neuer Disneyfilm herauskam. Dort hatte ich auch das letzte Mal Popcorn bekommen. Wenn Andere darüber sprachen, mit einem Mann ins Kino zu gehen, hatte ich immer Bauchschmerzen bekommen. Ich konnte es mir auch nie vorstellen. Ich musste immer zuhause bleiben, während er weg ging. Wir sind nie zusammen irgendwo gewesen. Und nachher kam er meist total betrunken nach Hause und ich musste wieder leiden. Wenn er dann endlich abließ und schlief, leckte ich immer wieder meine Wunden. Leise weinend und schmerzverzerrt hatte ich immer im Bad gehockt und meine Schatzkiste, wie ich sie nannte, unter der Wanne hervorgezogen. Dort war Salbe und Verband drinnen. Und Schmerztabletten. Wenn es ganz schlimm war, musste ich im Anschluss noch in die Küche schleichen, um den Kühlakku aus dem Froster zu holen. So hatte ich manche Nächte im Bad auf dem kleinen Teppich verbracht und versucht, das Schlimmste abzuwenden. Und Chris? Er war so anders. Obwohl ich ihn so nicht kennengelernt habe. Durch ihn hatte ich mit der Zeit gelernt, wie man küsste. Und das Hände nicht nur Schmerzen brachten. Außerdem hatte ich seit kurzem richtiges Bauchkribbeln, wenn er mich berührte. Aber ich hatte nach wie vor panische Angst vor mehr Nähe.

Einige Tage später fuhr ich erneut zu den Werkstatthallen. Chris hatte mich dorthin bestellt. Er hatte eine Überraschung für mich. An diesem Tag hatte ich eine Zwischenschicht bekommen und bereits um sechs Feierabend. Eine halbe Stunde später stellte ich das Rad vor dem Bürotrakt ab. Es war nach wie vor kalt, aber nicht mehr so windig. Schüchtern klopfte ich und trat dann ein. Es war niemand mehr da. Ich überlegte kurz, was ich jetzt tun könnte. Doch da kam schon eine junge Frau um die Ecke. Ich fragte, ob Chris da sei und sagte auch, dass ich herkommen sollte. Eigentlich hatte ich hier ja nichts verloren. Sie zeigte mir die Tür, durch die ich gehen sollte. Und schon befand ich mich wieder in der Werkstatt. Marie stritt sich gerade mit Andreas lautstark. Chris stand daneben und sah genervt aus. Mit einem unguten Gefühl setzte ich einen Fuß vor den Anderen. Chris und Andreas sahen mich und winkten mich herbei. Chris nahm meine Hände. "Immer noch das Fahrrad?" Besorgt rieb er mir die Hände. Ich sah zu Andreas und Marie. Chris tänzelte vor mir auf der Stelle. "Lass die beiden mal. Die streiten sich um die Art der konstruktiven Kritik. Hier, ich hab was für dich. Heute Mittag endlich angeholt!" Er zog eine Schachtel aus seiner Tasche. Sie sah edel aus. Als er sie vor mich hielt, verstummten die beiden Streithähne. Ich sah wie gebannt auf die Schachtel. Chris machte ein paar Geräusche und öffnete sie dann langsam. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Mein Armband. "Es ist heile" brachte ich unter Tränen hervor. "Ich hab dir doch gesagt, ich schenke dir die Reparatur zum Geburtstag!" er nahm er aus der Schachtel und dann meine Hand, schob den Ärmel über mein Handgelenk hinauf und strich vorsichtig mit dem Daumen über die Narben. Dann legte er das Armband darum und schloss es. Mit tränenverschleiertem Blick sah ich zwischen ihm und dem Armband hin und her.  Etwas an dem Armband war allerdings anders. Meine Eltern hatten es mir geschenkt. Es hatte das Unendlichkeitssymbol. Das fand ich damals so schön, dass sie es mir geschenkt haben. Nun war noch ein kleiner Symbol daran. Ich berührte es mit meinem Finger und sah dann fragend auf. "Das ist von mir." Ganz leise nuschelte er es. Schwungvoll und überglücklich fiel ich ihm um den Hals. "Danke. Das ist das Schönste, was man mir schenken konnte. Mein Armband."



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