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Als ich mich von Chris löste, drückte er mir einen Kuss auf die Lippen. Meine Hand lag auf seinem Unterarm. Und von dort riss Marie die Hand weg. "Was ist das?" Ihr war alles aus dem Gesicht gefallen. Sie sah, völlig weiß im Gesicht, auf mein Handgelenk, das von feinen und groben Narben umfasst war. "Was.... was ist das?" stammelte sie. Auch Andreas sah genauer hin. Er hatte ebenfalls Farbe verloren. Chris legte beschützend seinen Arm um mich. Marie hatte sich nie für mich interessiert. Sie wusste nicht, was gewesen ist. "Miriam?" kam es ängstlich von ihr. "Hast du etwa..." sie sprach es nicht aus. Chris Griff um mich wurde stärker, denn ich zitterte. "Vielleicht setzen wir uns?" schlug Andreas vor. Er sah besorgt zwischen mir und seinem Bruder hin und her. Marie ließ mein Handgelenk nicht los. Und ich ließ Chris Hand nicht los. Immer fester wurde mein Griff. Er saß dicht bei mir und sah mich aufmerksam an. Auch er kannte nicht die ganze Wahrheit. "Soll ich gehen?" fragte Andreas mit einem Blick, der erkennen ließ, dass er ein liebender Familienvater war. Der Schmerz in seinem Blick, obwohl er mich kaum kannte, brachte mich aus der Fassung. Ich schüttelte leicht den Kopf. "Das ist nicht die einzigste Narbe. Und nicht die Schlimmste." Chris atmete merklich schwerer. "Was ist passiert?" Marie war fast panisch. So hatte ich sie noch nie erlebt. "Das war mein Ex." Dann erzählte ich von Anfang an. "Als Mama und Papa gestorben sind, unser Elternhaus weg war, da hatte ich keinen Boden mehr unter den Füßen und die Kosten für alles waren so hoch. Mein Ex war der beste Freund meines Chefs. Und er hat mich für sein krankes Spiel gewollt. Er hat getrunken, dann hat er mich geprügelt, misshandelt und vergewaltigt. Ich habe dementsprechend die Narben. Je mehr ich gelitten habe, je mehr Blut floss, je befriedigter war er. Hätte ich was gesagt, ihn verlassen oder wäre zum Arzt gegangen, hätte er dafür gesorgt, dass ich den Job verloren hätte.  Er hat mich in der Hand gehabt." Marie liefen die Tränen über die Wangen, Andreas hatte sichtlich einen Schock und Chris zitterte an meiner Seite. "Die Narbe am Handgelenk ist so entstanden. Er hat immer und immer wieder an diesem Armband gezogen und es hin und her bewegt, bis es eingeschnitten hat. Und irgendwann ist es gerissen." "Aber wie hast du... es muss doch unglaublich geblutet haben..." Ich erzählte von meiner Schatzkiste unter der Badewanne, von der er nichts wissen durfte. Andreas stand auf und ging. Das war zu viel für ihn. Chris sah mich an. "Meine Brüste sehen auch nicht normal aus. Und naja... " Ich lief scharlachrot an. "Was hat er mit dir gemacht?" "Ich hab auch eine Menge Narben zwischen den Beinen." Marie schlug sich die Hände vor ihr Gesicht, Chris schloss die Augen und biss den Kiefer zusammen. "Ist denn... ist denn alles noch normal an dir?" Marie fragte sehr direkt. Chris hatte noch immer die Augen geschlossen, aber ich wusste, das er aufhorchte.  "Alles noch dran, wenn du das meinst. Aber ob es normal ist, weiß ich nicht. Woher soll ich das denn wissen?" Nun schluchzte ich. Marie fiel mir um den Hals und zog mich in eine feste Umarmung. Wir weinten beide. Chris war irgendwann weg. "Du hast nie richtig... normal... also... auch mit Chris nicht..." fragte meine kleine Schwester nach. Ich schüttelte den Kopf. "Das will doch keiner haben. Er hat dafür gesorgt, das mich niemand sonst mehr haben will." Traurig sah ich zu Boden. "Er hat es nie versucht?" Es ging bei ihr immer noch um ihren Chef. "Nein, ich glaube nicht." "Ich dachte immer, du spielst die Züchtige, weil du mich verachtest. Du kommst nicht zurück, weil du mir die Schuld gibst." In ihren Augen sah ich den Schmerz. "Es tut mir so unendlich leid!" flüsterte sie kaum hörbar.

Sie fuhr mit zu mir nach Hause. Chris und Andreas waren nicht mehr zu sehen gewesen. Marie bestand darauf, dass ich ihr zeigte, was für Narben ich noch hatte. Unwillig zeigte ich ihr alle. Marie bekam Anfälle aus Zorn und Bestürzung. Dennoch versuchte sie, sachlich zu bleiben. "Das sieht zwar nicht so schön aus. Weißt du ja selber. Aber  an sich sieht es außer den Narben noch normal aus." Sie legte den Kopf schief und strich über die lange Narbe, die quer über meine Brust verlief. "Du magst ihn, oder?" Ich zuckte mit den Schultern. "Es wird immer leichter, mit ihm umzugehen." "Und da ist nichts gelaufen? Ich meine, es ist echt kein Geheimnis, wie oft ihr die Nacht zusammen verbracht habt." "Marie! Da war nichts." "Also ich glaube ja, das er sich in dich verliebt hat. Der hat sich so krass verändert. Und deine Augen leuchten auch bei dem Thema." "Ich weiß doch, wie er ist. Irgendwann wird er mehr wollen. Und das kann ich ihm nicht geben. Und dann wird er gehen. Davor habe ich Angst." "Du wirst irgendwann auch mehr wollen. Glaub mir." "Nein, ich hab tierisch Angst davor. Ich kann das doch alles nicht. Und ich will die Schmerzen nicht mehr merken." "Miriam, das tut eigentlich nicht weh. Nichts davon tut weh. Hat er dich noch nie angefasst? Also außer Händchen halten?" "Doch..." gab ich zu. "Und? Tat das weh?" Ich schüttelte den Kopf wie ein kleines Kind. "Du Angsthase. Lass es auf dich zukommen. Ich denke schon, dass dir gefallen würde, was er zu bieten hat." "Hattest du etwa auch was mit ihm?" "Mit dem? Nee... nicht mein Typ." Angeekelt verzog sie die Nase. "Ich weiß doch nicht, wie sowas geht. Und wenn er das sieht, ist es vorbei. Er kennt doch nur schöne Frauen ohne Makel. Und die kann er immer noch alle haben. Das hat keine Zukunft... Ich möchte lieber nur Burger essen, ins Kino gehen oder seinen Kaffee trinken. Oder tanzen." "Sag mir nicht, dass du das auch noch nie vorher gemacht hast?" Auf mein Kopfschütteln hin musste sie lachen. "ICH bin die Jüngere. Das Gespräch müsste ANDERSRUM laufen!" Lachend schüttelte sie ihr rotes Haar. "Pass mal auf. Er hat dir scheinbar schon so einiges zum ersten Mal geschenkt. DAS wird er dann auch hinkriegen. Sag ihm einfach, was geht und was nicht." Wieder weinte ich in ihren Armen. Ich war erleichtert darüber, meine Schwester wieder zu haben. Und ich war froh, endlich jemandem zu haben, mit dem ich reden konnte. Aber ich hatte panische Angst vor der nächsten Begegnung mit Chris.

VergessenWhere stories live. Discover now