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"Fängt es jetzt wieder an? Oder geht es weiter?" Fragend sah ich ihn an, denn ich verstand ihn nicht. "Du bist ein Mensch. Eine Frau. Du hast auch Bedürfnisse. Und Rechte. Du zählst auch. Nicht nur Marie, sie ist nicht Gott. Sie hat nicht immer recht. Und sie hat kein Recht, so über dich zu urteilen. DU hast sie besucht, dich gekümmert und dich gesorgt. Kein Freund, keine Freundin, kein Partner." Ich schluckte. Zitternd nestelte ich an meinem Pulloversaum herum. Ich trug das alte Ding, da ich kaum etwas anderes Warmes im Schrank hatte. Es hatte Löcher und war schon oft von mir geflickt worden. Aber noch konnte ich es tragen. Ich sah zu Chris hinüber. Er hatte teure Sachen an. Ich wusste es, denn Lisa, meine Freundin aus dem Supermarkt, hatte mir das mal erklärt. Mein Kleiderschrank war dagegen sehr schlicht und vorallem klein gehalten. Das Schönste, was ich besaß, war Lisas Sommerkleid.  Ansonsten war alles schlicht, alt, verwaschen und meistens auch schon löchrig und gestopft. Selbst die Socken hatten Löcher. Ich passte so garnicht zu Chris oder in eine solche Wohnung. Ich biss mir auf die Unterlippe.  Meine eisigen Finger verschränkte ich ineinander. "Ich möchte bitte gehen." Chris sah mich betroffen an. Seine Augen waren traurig. "Miriam, du bist durch die Hölle gegangen. Aber du bist nicht alleine." Ich stand auf. Ich musste hier raus. Die Erkenntnis, die mich erneut getroffen hatte, dass ich niemals zu ihm passen werde und ihn niemals glücklich machen kann, erdrückte mich. Keuchend stand ich auf, nahm meine Tasche und meine Jacke und lief auf die Straße hinaus. Hinter mir brüllte er meinen Namen. Panisch rannte ich los. Es gab an jeder Ecke eine Frau, die er haben konnte. Ich blieb besser alleine. Marie hatte Recht. Ich blieb besser alleine. Zuhause  angekommen, sagte ich Bärbel und Bernd Hallo und unterhielt mich kurz mit ihnen. Ich überspielte meinen geistigen Zustand gekonnt und schmiss mich dann oben auf mein kaltes Bett. Alleine lag ich dort und fror. Langsam wurde es kalt draußen. Aber ich wollte noch nicht heizen. Ich muss mein Geld zusammen halten. Aber ich hatte meine alte Wärmflasche noch. Die, die ich schon als Kind hatte. Diese machte ich mir jetzt fertig und zog die Decke über meinen Kopf. Mein Kopf stellte sich vor, jetzt an seiner Seite zu liegen und wie warm und weich das gewesen ist. Mein Kopf hatte sich auch gemerkt, wie er gerochen hatte und wie sein Herzschlag ging. Und sein Atem. Tränen rannen mir wieder hinunter. Es waren die ersten schönen Erinnerungen, die ich an einen Mann hatte. Ich war froh darüber, dass mir das geschenkt worden ist. Eigentlich war es wirklich wie ein Geschenk. Ich lächelte etwas, sah auf die Uhr und ging in die Küche. Vor mich hin lächelnd holte ich ein gut gehütetes kleines Päckchen aus meinem Küchenschrank. Als die Kirchenuhr leise anfing, zur Mitternacht zu läuten, stellte ich ein Teelicht auf meinen buntesten Teller zu dem kleinen Minikuchen und dem kleinen Schokoladenbonbon. Ich hatte mir alles aufgehoben.  Aufgehoben für heute. Ich umarmte mich selbst, bließ die Kerze aus und schaute in den Nachthimmel hinaus. Vor wenigen Jahren hatte ich noch Geschenke bekommen, einen Kuchen, eine Karte. Irgendwie so etwas. Heute würde ich ein weiteres Mal alleine sein. Aber dieses Jahr hatte ich mir selbst ein kleines Miniküchlein hingelegt. Und Chris wusste nicht, dass ich sein gezaubertes Schokoladenbonbon dazugelegt hatte. Meine Stirn puckerte. Ich legte mich in mein Bett und würde in ein paar Stunden wieder zur Arbeit gehen. "Happy Birthday, Miriam" nuschelte ich, und dachte mir noch, das er sogar etwas zauberhaft war dieses Jahr, bevor ich einschlief.

Die Arbeit war noch etwas anstrengend. Ich musste mich zunächst bei meinem stinksauren Chef erklären. Obwohl Chris scheinbar Bescheid gesagt hatte, war er sehr böse und steckte mich zum Glück trotzdem nur in die Kasse, weil ich eine Wunde am Kopf hatte. So sagte er es zumindest. Aber ich musste den Ansturm alleine bewältigen. Draußen regnete es, die Leute waren schlecht drauf und drängelten und schimpften rum. Stunde um Stunde kassierte ich, brachte Sachen weg, tauschte Sachen um, räumte Körbe weg und putzte weg, was an der Kasse daneben ging. Lisa lächelte mir manchmal zu, wenn sie in der Nähe Ware verräumte. Mein Chef brummte mich jedes Mal an, wenn ich klingeln musste. In meiner Pause trank ich ein Glas Leitungswasser und wechselte das Pflaster an meiner Stirn. Traurig sah ich in den Spiegel. Meine Augen wurden wieder wässrig. Ich dachte an den Anruf der Polizei zurück. An die Stimme, die mir sagte, das meine Eltern tödlich verunglückt seien und ich zur Identifizierung kommen sollte. Dann dachte ich an meine vorherigen Geburtstage. Den Kuchen meiner Mutter, das liebevoll eingebundene Geschenk, die Umarmung von den beiden. Ich zog gedankenverloren das kleine Armband aus der Hosentasche. Es war kaputt. Ich hatte mir heute vorgenommen, in dem kleinen Schmuckladen zu fragen, ob es zu reparieren geht. Mein Exfreund hatte es mir bei einer der Torturen, die ich über mich ergehen lassen musste, abgerissen. Die Narbe dazu zierte noch immer mein rechtes Handgelenk. Es hatte furchtbar geblutet und lage nicht heilen wollen. Nach der Arbeit zog ich mein Shirt vom Supermarkt aus und kämmte mir durch meine Haare. "Oh, heute etwa noch was vor?" "Ich? Nein." "Kaffee? Du hast doch heute Geburtstag!" Lisa sah mich mit großen Augen an und überreichte mir etwas, was in Papier gewickelt war. Sofort stiegen mir Tränen in die Augen. Woher wusste sie das? Ich packte mit zitternden Händen mein erstes Geburtstagsgeschenk nach dem Tod meiner Eltern aus. Es war ein weinrotes Strickkleid. Lisa hatte es mal angehabt und ich hatte ihr gesagt, dass er sehr hübsch war. Ungläubig sah ich sie an. "Hey, schon gut. Ich zieh das nicht so gerne an und du fandest es so hübsch. Ich dachte, ich mache dir eine Freude statt der Kleidertonne. Wortlos fiel ich ihr um den Hals. "Und jetzt komm. Ich lade dich auf einen Kaffee ein. Oder lieber ein Glas Sekt?" "Ich.. ich wollte erst zu dem Schmuckladen. Ich wollte fragen, was eine Reparatur kostet. Und danach dann gerne." Lisa hakte mich unter und wir liefen zum Schmuckladen. Ich legte das Armband auf den Tresen. Die Glieder waren stark verbogen und an einer Stelle gerissen. Der nette Mann hinter dem Tresen begutachtete mein kleines Schmuckstück und nannte mir dann einen Preis, bei dem ich traurig die Schultern hängen ließ. "Darauf muss ich erst sparen. Ich werde es bringen, sobald ich das Geld habe. Vielen Dank." Traurig griff ich nach dem Kettchen. Der Mann lächelte mich mitleidig an. Der Preis war nicht hoch. Das wusste ich auch. Deswegen war es umso peinlicher, dass ich ihn nicht zahlen konnte. "Hier. Bewahren sie es hier drinnen auf. Das ist besser als die Hosentasche." Er lächelte nun freundlich und hielt mir eine kleine geöffnete Schachtel hin. Ich legte es hinein, bedankte mich und drehte mich zum Gehen um. Plötzlich stand jemand hinter mir. Ich sah mit rotem Kopf an ihm hinauf. "Wieso lässt du es nicht da?" Chris nahm mir die Schachtel aus der Hand und gab sie dem Mann zurück. "Nein, nicht. Ich habe das Geld wirklich nicht zusammen" bettelte ich. Er sah mich milde an. Dann wandte er sich dem Mann zu. "Bitte reparieren sie es schnell. Es scheint wichtig zu sein." Kaum war ich vor der Tür, strahlte mich Lisa an. "Ich habs ihm erzählt. Dass du Geburtstag hast." Verwundert sah ich zwischen den beiden hin und her. "Ich würde dir gerne diese Reparatur schenken." Schüchtern blinzelte ich ihn unter Tränen an. "Das musst du nicht. Ich zahle es bei dir ab. Versprochen." "So ein Quatsch. Komm schon her!" Damit nahm er mich fest in den Arm. "Alles Gute zum Geburtstag!" "Danke" hauchte ich an sein Ohr und atmete tief durch. Er sah wieder gut aus. Auch Lisa sah toll aus. Und ich hatte mir immerhin die Haare gekämmt zu meinen alten Klamotten. Die beiden zogen mich ein Café und bestellten ein Glas Sekt für jeden von uns. Alkohol hatte ich schon ewig nicht mehr getrunken. Ich sah ängstlich von Lisa zu Chris. "Alles okay?" "Kann ich den Sekt mit Orangensaft haben?" "Du bist das Geburtstagskind. Na klar." Und so änderte er die Bestellung noch mal. Das war mir sehr unangenehm. Meine Finger klemmte ich seitlich unter meine Beine. "Ist dir kalt?" Chris sah zu mir und rückte etwas näher. Lisa flirtete gerade angeregt mit dem Kellner. "Darf ich mich anlehnen?" flüsterte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Statt einer Antwort nahm er mich in den Arm. "Besser so?" Ich nickte und lehnte meinen Kopf an ihn. "Hat dir Marie schon gratuliert?" Ich schüttelte den Kopf. "Sie hat mir das letzte Mal vor dem Tod meiner Eltern gratuliert." "Was war das für ein Armband?" "Das haben mir meine Eltern geschenkt, als ich noch klein war. Da ist mein Sternzeichen drauf." "Wie ist es so kaputt gegangen?" Er strich über meine Narbe um mein Handgelenk. "Mein Exfreund. Er... er hat mir immer weh getan bei..." "Oh." Er küsste mein Handgelenk, so als ob es das Geschehene besser machen konnte. Noch nie hatte jemand meine Narben gestreichelt. "Was möchtest du heute machen?" "Wir machen doch schon was. Das ist doch schon so viel." "Du hast noch einige Stunden lang Geburtstag. Also, was möchtest du machen?" Ich schüttelte den Kopf. "Nichts weiter. Das ist ein schöner Geburtstag. Ich habe ein Geschenk bekommen und mir haben sogar zwei Leute gratuliert. Das ist wirklich ein schöner Geburtstag!" Den letzten Satz sagte ich mit Nachdruck. Lisa lächelte mich an. "Zieh dir dein neues Kleid an und macht noch was schönes. Miriam, man hat nur einmal im Jahr Geburtstag!" Dann kam der Sekt und wir stießen richtig an. Auf mich und meine Gesundheit. Und auf meine Zukunft. Bevor wir gingen, schliff mich Lisa tatsächlich hinter sich her auf die Damentoilette. Und dort musste ich das Strickkleid anziehen. Natürlich hatte sie eine Strumpfhose für mich. Etwas unwohl fühlte ich mich schon damit. Das Kleid war etwas figurbetont. Ich trug ja sonst nur meine ausgeleiherten Klamotten. Und nun steckte ich in meinen alten Turnschuhen und diesem wunderschönen Kleid. Lisa pfiff mir zu und schubste mich dann zurück in den Gastraum. Chris Blick wurde ganz komisch. Ich bekam Panik und drückte mich schutzsuchend an Lisa. "Ganz ruhig. Der ist total hin und weg von dir. Mehr nicht. Ich würde meinen, er würde dich niemals so behandeln, wie er andere Frauen schon behandelt hat. Und auch nicht so, wie dein Ex." Sie strich mir wissend über meine Narben. Dann umarmte sie mich. "Tu mir einen Gefallen und versuche, glücklich zu werden. Scheiß auf Marie. Scheiß auf die Vergangenheit. Da vorne steht vielleicht deine Zukunft. Und er ist garkeine so schlechte Partie." Lisa sah mich vielsagend an. Wir hatten uns vor Kurzem nach Feierabend noch unterhalten. Sie hatte eine Menge herausbekommen über mich und meine Vergangenheit und sich dafür entschuldigt, dass sie mich zwischendurch so fallen gelassen hatte. Sie war auch kein Befürworter gerade von Männern wie Chris. Aber irgendwie war sie trotzdem der Meinung, er war gut für mich.

Lisa hatte dann die Flucht ergriffen, nicht ohne Chris einen scharfen warnenden Blick zu zuwerfen. Und jetzt stand ich hier und er blickte mich an. Diesen Blick kannte ich von früher und er hatte nie etwas Gutes bedeutet. Chris kam auf mich zu und hielt mir seine Hand hin. "Ich hab eine Idee. Kommst du bitte mit?" Er fuhr mit mir aus der kleinen Ortschaft hinaus. Ich erkannte den Weg zum See. "Wir fahren zum See?" "Ja. Den magst du doch, oder?" "Aber es ist doch schon am Dämmern." Angstvoll sah ich zu ihm." "Ich habe nicht vor, dir was anzutun." Am Parkplatz griff er nach meiner Hand. Sein schlacksiger Gang war viel schneller, als meine Beine es waren. "Willst du tanzen?" Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. "Ich kann garnicht tanzen." "Aber das hat doch schon mal geklappt?!" "Schon, aber ich habe nie tanzen gelernt." "Darf ich es dir zeigen?" Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern griff nach mir und wirbelte mich herum. Schritt für Schritt erklärte er es mir und dann fügten wir alles zusammen. "Das ist schön." "War es das beim letzten Mal nicht?" "Dir wird für immer mein erster Tanz gehören" flüsterte ich ganz leise an seinen Arm. "Wirklich?" Mist. Er hatte es gehört. Hochrot drückte ich mich an seinen Arm. "Ich hätte auch gerne deinen ersten Kuss gehabt." "Aber du kannst mich doch küssen." Noch in diesem Moment biss ich mir auf die Zunge. Er brachte mich total aus der Rolle und ließ mich komische Dinge verlangen, die mir garnicht zustanden. Er wiegte mich langsam hin und her und senkte sehr langsam seine Lippen auf meine. Was war nur los mit meinem Leben? "Andreas grillt heute mit ein paar Kollegen und die Kinder kriegen wieder ein Lagerfeuer. Hast du Lust? Das Feuer zu unserem Firmenfest hat dir doch auch gefallen, oder?" Träumte ich gerade etwa wieder vor mich hin und wachte gleich wieder auf einer Bank auf? Oder an Maries Bett?

VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt