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Einige Wochen später fuhr ich mit dem Rad nach der Arbeit zur Firma von Chris.  Marie arbeitete wieder. Es war schneidend kalt. Mein Auto hatte ich noch immer nicht angemeldet. Lange würde das mit dem Fahrrad nicht mehr gehen, dachte ich mir, als die nächste kräftige Windböe gegen die Räder drückte. Meine Finger spürte ich nicht mehr und ich hatte das Gefühl, ein Eiszapfen hing an meiner Nase.  Den letzten Kilometer schob ich das Rad, da der Wind schlimmer wurde. Marie hatte sich weiterhin gewaltig daneben benommen. Und sie rückte nicht mit der Sprache raus, was genau passiert ist. Sie sagte zwar jedem, der fragte, dass sie es nicht mehr wüsste, aber ich kannte sie besser und sie wusste es sehr wohl. Den Kontakt zu ihr hatte ich abgebrochen. Doch seit sie wieder arbeitete, streute sie ihr Gift noch stärker als zuvor. Es hatte bis heute gedauert, dass ich wieder in diese Richtung fuhr. Von dem Tag an, an dem wir Marie aus dem Krankenhaus abgeholt hatten, waren ich und Chris nicht mehr alleine gewesen. Ich hatte einfach Angst vor dem, was passieren könnte. Mittlerweile hatte ich sein altes Handy. Warum es alt sein sollte, wusste ich nicht. Es sah noch gut aus und es funktionierte. Es hatte sogar eine Kamera, die es noch tat. Der Wind brachte Nieselregen. Ich zog die Schultern hoch und sah über die Felder. Graue Wolken hingen tief am Himmel und trieben schnell davon, um neuen, noch graueren Wolken Platz zu machen. Dort war die Bank, von der mich Chris vertrieben hatte.  Ich erinnerte mich an die Äpfel des nun kahlen, traurig sich wiegenden Baumes dahinter zurück. Als ich auf den Hof der Firma einbog, wünschte ich mir das Feuer zurück. Das von der Firmenfeier. Ich stellte mein Rad am Zaun ab. Frierend klopfte ich an das Tor der Werkstatt und trat dann ein. Sofort rauschten meine Ohren, denn nun war der fürchterliche Wind weg. Andreas winkte und trat seinen Bruder sanft mit dem Fuß. Dieser drehte sich um und sah mich an. Marie war mit einem anderen Techniker dabei, irgendwas anzuschrauben. Sie grinste mich böse an und verzog dann ihr hübsches Gesicht zu einer Fratze. Traurig sah ich weg. Ich wusste ja, dass ich nie auch nur in die Nähe ihres Chefs hätte kommen dürfen. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er mir immer und immer wieder so nahe war. Aber seine Hilfe hatten mir meine Eltern geschickt. Ohne ihn hätte ich das nie gepackt mit Marie im Krankenhaus. Unsicher sah ich zu Boden und ging einen Schritt rückwärts. Ich hätte vielleicht doch nicht herkommen dürfen. Aber draußen war es wirklich ekelhaft. Eine warme Hand packte mich leicht an der Schulter. Ich sah auf und in braune Augen. Erleichtert über den Anblick von Chris entspannte ich mich etwas. "Du bist da" sagte er leise. "Ja" antwortete ich. Er nahm meine Hände. Sein Gesicht war leicht gerötet von der Arbeit. Mein Gesicht glühte auch. Aber das lag eher am Wetter. "Du bist ja gefroren" stellte er überrascht fest und fing an, meine Hände mit seinen zu reiben. "Du bist doch nicht etwa mit dem Fahrrad hier, oder?" Schüchtern zuckte ich mit Schultern und nickte. "Ist das jetzt dein Ernst? Marie arbeitet doch wieder und du hast nicht mehr für sie aufzukommen. Meld dein Auto wieder an, verdammt! Es ist November!" Betreten sah ich zu Boden. Das mochte ja alles stimmen, aber er wusste nicht, das die Reifen nicht mehr in Ordnung waren. Würde man mich damit kontrollieren, wäre das ein Problem. "Mach ich ja noch" erwiderte ich daher leise. Marie lachte hämisch. "Die hat bestimmt immer noch keine Kohle dafür, weil sie zu dämlich ist zum arbeiten." Sie hatte ja keine Ahnung, was ich noch nachzahlen musste, weil mich ihr Krankenhausaufenthalt teuer zu stehen gekommen ist. Sie hatte schwarze Zahlen dank mir. Und dank ihren Chefs. Aber ich hatte noch etwas länger damit zu kämpfen und arbeitete nur noch die miesesten Schichten. Heute hatte jemand mit mir getauscht, da er nicht anders gekonnt hätte und ich hatte gedacht, es wäre eine gute Idee, herzukommen. Diese Idee bereute ich jetzt. "Kann ich vielleicht etwas Warmes trinken bitte?" "Klar, komm mit." Marie feixte herum, während Chris mich in Richtung Büro schob. In der Teeküche bekam ich einen heißen Kaffee in die Hand. "Ich freue mich, dass du hier bist. Aber ich hätte dich doch abholen können. Bist du krank? Du musstest doch arbeiten?!" "Jemand konnte heute früh nicht und wollte tauschen. Und ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn ich nach der Schicht herkomme." "Ja klar. Wir kommen hier eh nicht weiter. Lass uns was Schönes machen." Aufgeregt sprang er auf und verschwand wieder in der Halle. Ich wärmte meine Finger an der Tasse und spürte, wie meine Nase auftaute. Irgendwann hörte ich, wie Andreas eindringlich sprach. Neugierig spitzte ich die Ohren und verharrte auf meiner Position. "Wenn du noch einmal, statt deine Arbeit zu tun, hier solche unangebrachten Sprüche klopfst, gibt es eine Verwarnung. Würdest du so mit meiner Frau reden, hättest du ein richtiges Problem. Sei froh, das mein Bruder gerade so friedlich ist!" Ich zog die Augenbrauen hoch. Nach ein paar Minuten rauschte Marie an mir vorbei. Ich senkte den Blick in meine Tasse und nippte an dem Kaffee. Andreas war nicht zu sehen. Dafür hörte ich, wie sich die beiden Brüder verabschiedeten. Andreas wollte auch rüber zu seiner Familie und Chris kam zu mir zurück, als ich gerade die leere Tasse abstellen wollte. Ich zuckte zusammen, weil er so schnell reingerauscht kam. "Wir gehen ins Kino. Ich lad dich ein." "Ins Kino?" "Ja, oder findest du das doof?"  "Nein.. ich... also ich war schon ganz lange nicht mehr mehr im Kino." Unvermittelt riss er mich förmlich in seine Arme. "Dann los" forderte er mich auf.

Wir hielten unterwegs noch kurz an, da Chris unglaublichen Hunger hatte. Es gab Pommes und Burger mit einer Cola. Ich genoss jeden Bissen. Sowas hatte ich genauso lange schon nicht mehr gegessen. Chris alberte herum und legte die Serviette auf den Schoß, versuchte ganz fein zu essen und zog eine Grimasse nach der anderen.  Vor Lachen spuckte ich hingegen fast das Essen über den Tisch. "Du kannst dich wohl nicht benehmen, oder?" fragte er mit einem breiten Grinsen und drückte mir dann spontan einen Kuss auf die Lippen. Mein Bauch fing an zu Kribbeln. Meine Hand griff nach seiner Hand. Ich schloss meine Augen und genoss diesen Moment. Sein bubenhaftes Grinsen beendete diesen Moment. "Wir müssen uns beeilen. Sonst kriegen wir kein Popcorn mehr vor dem Beginn." "Aber wir haben doch gerade gegessen" merkte ich an. "Wir haben noch keinen Nachtisch gehabt. Oder möchtest du etwa mein Nachtisch sein?" Seine Worte trieben mir die Hitze in die Ohrenspitzen. Schnell sprang ich auf. Chris lachte herzhaft auf. "Angsthase. Aber irgendwann bist du der Nachtisch!" Die Hitze breitete sich von den Ohren auf die Wangen auf. "Los, beeil dich lieber mal ein bisschen" trieb ich ihn voran. Er lachte mich kopfschüttelnd an.

Im Kino machte Chris ernst. Ich kam zum Glück um einen Horrorfilm herum. Aber dafür nicht um eine riesige Tüte Popcorn. Der Saal war eher leer und wir nahmen unsere Plätze ein. Noch bevor das Licht ausging, hatte die Menge an Popcorn in seiner Hand beträchtlich abgenommen. "Du musst die auch essen" sagte er mit vollem Mund und hielt mir welche vor meine Lippen. Zaghaft nahm ich sie in den Mund. Der süße Geschmack von den noch warmen Teilen breitete sich in meinem Mund aus. "Mhhh" entfuhr es mir. Chris Kopf flog zu mir. "Wenn du das auch nur noch einmal machst..." "Was denn?" Er zog die Augenbrauen hoch und kam dann nah an mich heran. "Meine Beherrschung ist irgendwann mal vorbei" flüsterte er mir so dicht zu, dass mich seine Haare am Ohr kitzelten und ich unweigerlich kichern musste. "Was gibt es denn da zu kichern?" "Das kitzelt" sagte ich und strich über seinen Bart. Es wurde immer leichter, mit ihm umzugehen. Als der Film begann, lehnte ich mich an und genoss die Situation. Wer konnte schon wissen, wo das hinführte.

Liebe Leser, das Ende naht. Ob es 'happy' wird? Wer kann das schon wissen. Leider kommt wenig Feedback von euch. Liegt es daran, dass es nicht gefällt? Kommt es darauf überhaupt an?

VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt