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Nachdem ich geschriehen hatte, kam erst eine Schwester und dann Ärzte herein und schickten uns vor die Tür. Ohnmächtig hing ich auf einem Stuhl und konnte mich nicht selbst aufrecht halten. Lauthals schluchzend wippte ich vor und zurück. Was wir gerade erlebt hatten, war zu furchtbar, als das ich es begreifen konnte. Marie hatte plötzlich aufrecht im Bett gesessen, weit aufgerissene Augen und eine zur Fratze verzogene Miene. Dann hatte sie kurz gequiekt und war wieder in die Laken zurückgefallen. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib geschriehen, Chris neben mir hatte vor Schock die Luft angehalten und war starr wie ein Brett geworden. Nun saßen wir hier auf dem Gang. Ein Arzt kam herbeigeeilt. "Kommen Sie mit. Ich werde Ihnen beiden etwas zur Beruhigung spritzen. Er nahm mich unter die Arme und bugsierte mich in ein Behandlungszimmer. Dort bekam ich wie in Trance nur mit, dass Chris und ich eine Spritze bekamen. Chris sank neben mir etwas schwächelnd zusammen. Ich wippte noch immer vor und zurück. Eine Schwester brachte uns etwas Wasser und beobachtete uns auf Anweisung des Arztes genau . Dieser ging raus.  Langsam überkam mich eine wundervolle Ruhe. Meine Gedanken wurden schwerer, viel langsamer, als es das rasende Tempo von gerade eben noch war. Und ich wurde etwas klarer. Chris saß neben mir und war ganz blass. Wie aus einem Impuls wusste ich, dass nun ich stark sein musste und nahm ihn in den Arm. Als der Arzt wieder ins Behandlungszimmer kam, sahen wir beide unruhig auf. "Was war das? Was hat meine Schwester? Sie sah aus wie der Teufel höchstpersönlich." Chris nickte nur, immer noch sichtlich geschockt. Der Arzt setzte sich hinter den Schreibtisch und sah mich an. "Ihre Schwester hat sich plötzlich gegen die Beatmung gewehrt. Der Schlauch ist verrutscht und sie drohte, zu ersticken. Die Reaktion, die sie gesehen haben, hat auch die Schwester hinter der Scheibe gesehen. Für die Patientin war es wohl ein Schock, der sie ins Leben zurück geholt hat. Ihre Schwester ist wach." Die letzten Wort hallten in meinem Kopf nach. Marie. Sie ist wach. Hatte ich das gerade richtig verstanden? "Sie.. sie ist wach?"  "Wenn meine Kollegen mit den Untersuchungen fertig sind, können Sie vielleicht noch mal zu ihr." Damit bat er uns, draußen Platz zu nehmen. Durch die Beruhigungsmittel konnten wir wieder etwas normaler agieren. Chris sah mich besorgt an. "Das war gerade schon krass." Ich nickte nur etwas abwesend. Völlig neben mir lehnte ich mich an seine Schulter und starrte in den Gang hinein, in dem Marie lag. Nach und nach kamen Ärzte und Schwestern aus der Richtung und bogen mal hier und mal da ab. Ein Weile verging. Dann blieb ein Arzt vor uns stehen. "Sie können kurz zu ihr. Sie ist sehr schwach. Aber die Werte sind der Situation angemessen." Stumm nickte ich und zog Chris hinter mir her. Wie selbstverständlich hielt ich mich an ihm fest. Er war Alles, was ich gerade hatte.  Und ich hatte Angst. Ich hatte solche Angst. Der Arzt hatte uns nicht mehr gesagt. Vielleicht wussten sie noch nicht mehr. Vorsichtig klopfte ich an die Tür. Dann drückte ich die Klinke runter. Millimeterweise öffnete ich sie einen Spalt breit und linste in den Raum. Die Kabel waren weniger geworden. Auch die Schläuche im Gesicht fehlten nun. Marie lag da. Ihr Gesicht war noch immer nicht entspannt. Aber sie öffnete die Augen. "Du?" war alles, was sie krächzte. Ich ging hinein. Chris dicht hinter mir. Sie sah von mir zu Chris. "Ich hab geträumt, dass ihr beide... lächerlich..." Marie war ganz die Alte. Und sie hatte Recht. So verdammt Recht. Wieso hatte ich auch gedacht, dass es wirklich so sein könnte. "Was hast du denn gemacht?" Sie sah mich nun genauer an. Ich fasste mir an die Stirn. Dort war meine Schürfwunde. "Sie hatte einen Unfall. Und du bist scheinbar ganz die Alte." Chris Stimme klang unterkühlt. So hatte er anfangs mit mir gesprochen. Kalte Schauer und eine eisige Gänsehaut überzogen meinen ganzen Körper. "Ihr seid doch nicht wirklich...?" fragend sah sie mich an. "Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Du lagst wochenlang im Koma. Du hättest ohne die Geräte nicht mehr weitergelebt. Sie wollten sie schon abstellen. Es war die Hölle!" weinte ich los und sah meine Schwester wutentbrannt an. "Wie konntest du mir das antun und aufhören zu atmen?!" schrie ich sie an. Chris hielt mir den Mund zu  und zog mich zu sich in die Arme. Marie sah nur noch meinen zuckenden Rücken, geschüttelt vom Schluchzen.

"Ihr seid doch nicht wirklich..?" erneut setzte Marie dazu an, als ich mich beruhigt hatte. Die Schwester war schon kurz ins Zimmer gekommen. Chris hatte sie rausgeschickt und versichert, es sei Alles okay. Besorgt warf sie vor dem Verlassen einen Blick auf die Geräte. Ich saß, nun mit Abstand, auf einem Stuhl. "Was ist eigentlich passiert?" wollte ich von ihr wissen, putzte mir dann die Nase und sah sie verheult an. "Weiß ich nicht. Die Ärzte haben mich auch schon gefragt. Ist Thomas nicht hier? Ist er schon weg heute?" "Thomas?" "Na, mein Freund." "Marie, hier war außer mir niemand. Außer mir und ihm." Ich sah zu Chris hinüber, der Marie genau beobachtete. "Er war nicht da?" "Nein, es hat auch zuhause bei dir Keiner gefragt." "Woher willst du das denn wissen? Was weißt du schon?!" schnippisch sah sie mich an. Ihre giftigen Worte hatten trotz ihrer leisen, krächzenden und dünnen Stimme nichts an ihrer üblichen Wirkung verloren. "Ich denke, wir gehen jetzt besser." Damit stand Chris auf und bugsierte mich vor die  Tür.  Wie in Trance lief ich neben ihm her. Ohne dieses Beruhigungsmittel wären wir jetzt beide nicht so ruhig. Da wir so nicht fahren konnten, nahmen wir ein Taxi. Auch bei ihm zu hause saß ich einfach nur wie in Schockstarre auf der Couch, lehnte mich an und starrte vor mich hin. Ungläubig ließ ich nicht nur den heutigen Tag Revue passieren. "Sie ist undankbar. So undankbar. Aber sie ist meine Schwester. Und wenn sie Recht hat? Wir beide? Was weiß ich denn schon?"  "Ich weiß, dass sie kein Recht dazu hat, dich weiterhin so zu behandeln." Chris sprach ganz deutlich. Ich verstand ihn, aber auch wieder nicht. "Wir passen doch garnicht zusammen. Sie hat Recht." Chris rieb sich über sein Gesicht.

VergessenWhere stories live. Discover now