Kapitel 29

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Seufzend stieß ich mich vom Geländer meines Balkons ab und ging zurück in mein Schlafzimmer.

Ein letztes Mal regte sich Hoffnung in mir und ließ meinen Blick über den dunklen Nachthimmel wandern, bevor ich es schließlich aufgab und ergeben die Augen schloss.
Er würde nicht mehr kommen.

Es waren bereits drei Tage seit meinem Geburtstag vergangen und Raven war immer noch nicht zurückgekehrt

Ob ihm etwas zugestoßen ist? 

Doch diesen Gedanken verwarf ich direkt wieder - so wie die unzähligen Male zuvor in den letzten Tagen. Wenn ich mir um die Sicherheit einer Person im ganzen Land keine Sorgen machen musste, dann war es Ravens. Er konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen.

Warum also verschwand er völlig ohne Vorwarnung? Auch wenn ich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte, konnte ich nicht anders, als mich verraten und alleine gelassen zu fühlen.

Ich ließ meinen Blick über die wunderschöne, silbrig schimmernde Landschaft hinter mir gleiten und saugte ihren Frieden tief in mich auf. Dann ließ ich mich auf meinem frisch gemachten Bett nieder und schloss die Augen.

Wie auch in den Nächten zuvor kam der Schlaf sofort und hüllte mich in seine sanfte Umarmung. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich zwischen den verschiedenen Träumen wechseln konnte, als würde ich einen Raum verlassen und einen anderen betreten.

Mit der Zeit hatte sich meine Vermutung bestätigt, dass es meine Aufgabe war, über die Träume der Schlafenden zu wachen und die schlechten unter ihnen fernzuhalten.

Auch diesmal konnte ich instinktiv spüren, wenn ein Albtraum auftauchte und ihn gezielt betreten, ohne dass es mir groß Schwierigkeiten bereitete. Meistens handelten diese dunklen Träume von sehr persönlichen Dingen, doch die Fae schienen nicht erschrocken und abweisend, wenn ich ihre Gedanken sah, sondern meist dankbar und erleichtert.

Ich verstand nicht, wie ihr Verhalten mir gegenüber so unterschiedlich sein konnte.

Irgendwann verschwammen die Umrisse des Traumes, in dem ich gerade wandelte. Noch bevor der alte Mann, der mir seit einer Weile über seinen kleinen Enkel erzählt hatte, seinen Satz beenden konnte, hatte ich die Traumwelt bereits verlassen und fand mich in meinem eigenen Bett wieder.

Draußen dämmerte es bereits und die Vögel zwitscherten in den Bäumen des Schlossgartens. Müde fuhr ich mir über das Gesicht und richtete mich auf. Ich fühlte mich ausgelaugt, als wäre ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen - das war der Preis, den das Traumwandeln forderte.

Immer noch mit halb geschlossenen Augen schwankte ich durch mein Zimmer, schlüpfte ein wenig umständlich in das schlichte, dunkelblaue Kleid, das mir bereitgelegt worden war und kämmte meine Haare, bevor ich mir die vordersten Strähnen mit einer kleinen Spange am Hinterkopf feststeckte.

Dann verließ ich mein Zimmer und machte mich zum Speisesaal auf.
Wie jeden Morgen saßen Zacharius und Helena bereits beisammen und unterhielten sich leise. An den unzusammenhängenden Gesprächsfetzen, die ich mitbekam, war zu erkennen, dass sie sich bereits so früh am Tag über Politik unterhielten.

Ich verkniff mir ein Seufzen und ließ mich auf meinem üblichen Platz nieder. Sofort wurde mir ein Teller mit Früchten, hellem Brot und ein Glas kalte Milch gebracht. Nach einem leisen Dank begann ich mein Frühstück.

Eine Weile herrschte Schweigen, bis meine Schwester erneut begann zu sprechen.

„Wir sollten nicht zu überstürzt handeln. Der Adel im Osten würden sich vernachlässigt fühlen, wenn wir nur denen im Norden helfen - auch sie fühlen sich und die Bewohner ihrer Gebiete bedroht. Es ist jedoch noch niemand durch diese nächtlichen Angriffe zu Schaden gekommen. Wenn wir jetzt eingreifen, werden sich die Gerüchte nur noch schneller verbreiten und zu Spannungen führen."

Zacharius lauschte ihren Worten mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck, während er sich eine Weintraube nach der anderen mit seiner Gabel aufspießte und in den Mund steckte.

Schließlich nickte er. „Da hast du recht, aber du solltest etwas tun, um deine Handlungsfähigkeit zu beweisen. Ansonsten verlierst du das Ansehen und Vertrauen des Adels."

Stumm lauschte ich ihrem Wortwechsel. Mir war klar, dass es um die nächtlichen Angriffe ging, die die Fae nun seit einiger Zeit immer mehr beunruhigten - die Auswirkungen dieser wachsenden Angst hatte ich deutlich zu spüren bekommen.

Kurz überlegte ich, bevor ich meine Gabel senkte und mich räusperte. „Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?" Helena sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann stieß sie einen leisen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.

„Nein, kannst du nicht. Diese Dinge muss ich selbst regeln. Ich weiß, dass du helfen willst, Nimue, und es tut mir leid, dass du es nicht kannst."

Resigniert senkte ich den Blick auf den Tisch, während ich ihren Worten lauschte. Also ich den Kopf hob, lag ein mitfühlender Ausdruck in ihren warmen goldenen Augen.

Beinahe hätte ich mir eine spitze Bemerkung nicht verkneifen können, dass mein Geburtstag nichts daran geändert hatte, dass ich keine richtige Aufgabe bekam. Doch ich biss mir auf die Zunge und nickte nur. ,,Du könntest heute Mostreus und mir helfen", wandte Zacharius mit einem Lächeln ein. "Wir wollen einige der Bücher einsortieren, die wir bestellt hatten und dafür andere ausmustern. Du wärst uns eine große Hilfe", setzte er schließlich noch nach, sodass ich mit einem dumpfen Brummen zustimmte.

 Für einige Atemzüge herrschte ein unangenehmes Schweigen, bevor wir uns wieder dem Essen zuwandten. Soll das jetzt immer so weitergehen?, fragte eine kleine Stimme in meinem Kopf. Während sie sich um das Land kümmert, werde ich in die Bibliothek verbannt. 

Sofort taten mir meine Gedanken leid, denn ich liebte die alten, staubigen Wälzer, den noch älteren und altersgebeugten, aber stets fröhlichen Bibliothekar und die geheimnisvolle Stimmung, wenn die Sonnenstrahlen den Staub zwischen den Regalen zum Schimmern brachten. 

Nach dem Frühstück verschwand meine Schwester in ihr Arbeitszimmer und ich folgte dem weißhaarigen Zentaur in die Bibliothek. Während wir schweigend nebeneinander her gingen, konnte ich seinen forschenden Blick immer wieder auf meiner Schläfe spüren, doch ich ignorierte ihn. Ich hatte keine Lust, mich vor ihm erklären zu müssen. 

Als wir den großen Bibliothekssaal erreichten, wurden wir von Mostreus empfangen. "Guten Morgen, Eure Hoheit, Zach. Danke, dass ihr mir helft! Wollt ihr einen Tee?" Während der alte Fae fröhlich vor sich hin brabbelte, führte er uns in Zentrum des Raumes, wo uns bereits ein riesiger Tisch voller Bücher erwartete. Sie alle mussten einsortiert werden. 

Sowohl Zacharius als auch ich lehnten den Tee mit einem dankenden Lächeln ab - die allgemein bekannte Wirkung der Pilze, von deren Aufguss der alte Bibliothekar sich zu ernähren schien, schreckte uns ab. 

Mostreus lachte nur leise in sich hinein, während wir uns daran machten, die Bücher zu begutachten und sie ihren Themen zuzuordnen. 

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