Kapitel 38

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Ihr Schatten bäumte sich über mir auf wie eine riesige Wasserwand, die langsam zusammenbrach. Panisch wirbelte ich herum und versuchte zu entkommen, doch meine Füße lösten sich nicht vom Boden. Ihr Lachen ertönte höhnisch und hüllte mich ein, trieb meine Furcht in ungeahnte Höhen.

"Nimue, lass es einfach zu - du kannst dich nicht länger vor dir selbst verstecken!"

Während ich mich reflexartig nach der Quelle ihrer Stimme umsah, schwappte der Schatten in rasender Geschwindigkeit auf mich zu. Kurz bevor er mich erreicht hatte, nahm ich all meine Kraft zusammen und hob meine Arme schützend vor mein Gesicht. Im nächsten Moment kniff ich die Augen zusammen und erwartete das unerträgliche Gefühl des Ertrinken, das mich jetzt - wie jedes verdammte Mal, das ich diesen Traum schon durchlebt hatte - gefangen nehmen würde.

Doch es kam nicht.

Plötzlich wurde ich zurück in die Realität gerissen. Nach Luft schnappend wie ein Ertrinkender fuhr ich hoch und riss die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte, dann fiel mein Blick auf Raven, der sich über mich gebeugt hatte und mit Panik in den Augen auf mich hinunter starrte. Erst als er sich blinzelnd zurücklehnte und die Hände von meinen Schultern löste, bemerkte ich, dass er diese fest und beinahe schmerzhaft umklammert hatte.

Langsam fiel die Anspannung von meinem Körper ab und ich atmete zittrig durch. Alles gut, du träumst jetzt nicht mehr, wiederholte ich immer wieder, während ich mir mit einer fahrigen Bewegung die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.

Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und sah Raven wieder an. Der Schock über meine letzten Worte ihm gegenüber saß noch tief und ließ mich zögern, jetzt den Mund zu öffnen. Doch seine verstörte, besorgte Miene machte mir klar, dass ich ihm von meinen Träumen erzählen musste.

Er würde für mich da sein - das hatte er gesagt. Ich glaubte ihm.

Also sog ich ein letztes Mal die frische Luft in meine Lungen und stieß sie ruckartig aus, bevor ich ansetzte: "Ich-" Meine Stimme brach, sodass ich mich räuspern und erneut anfangen musste.

"Ich habe ab und an Albträume. Meistens kommen sie, wenn ich während des Traumwandeln nicht aufmerksam und vorsichtig genug bin. Ich schätze, auch die Prinzessin der Nacht kann schlecht träumen", versuchte ich einen Scherz, konnte selbst jedoch nicht richtig darüber lachen.

Raven starrte mich an, bevor sich grob mit der Hand über die Augen fuhr und mit rauer Stimme murmelte: "Seit wann hast du diese Träume schon?"

"Seit meinem 16. Geburtstag."

Raven stieß einen gezischten Fluch aus und ich konnte sehen, dass seine Kiefermuskeln mahlten. Schnell wurde mir klar, was in ihm vorging und ich schüttelte hastig den Kopf. Ich wollte nicht, dass er sich die Schuld gab - nicht daran.

Er sah es nicht, weil er die Augen zusammengekniffen hatte, also krabbelte ich näher an ihn heran und umfasste sein Gesicht sanft mit meinen Händen, bis sich der Blick seiner rötlichen Augen voller Schuld und Reue auf mich legte. Mein Herz setzte bei diesem Anblick einen Moment lang aus.

"Raven, es ist nicht deine Schuld. Ich komme damit klar", flüsterte ich und versuchte ein beruhigendes Lächeln, doch er schüttelte nur den Kopf, sodass ich meine Hände sinken lassen musste. Wortlos zog er mich in eine feste Umarmung. Es war, als würde er alles Dunkel von mir fern halten wollen. Dankbar sog ich seinen Duft ein und schloss die Augen. Das leise Rascheln seiner schwarz schimmernden Schwingen drang an meine Ohren wie ein Säuseln.

Doch dann wurde der Frieden des Momentes gestört, als ein leises Klopfen an der Zimmertür ertönte. Verwundert löste Raven unsere Umarmung und zog fragend eine dunkle Augenbraue hoch, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, wer es sein könnte.

"Herein", rief ich also und die Tür schwang auf. Verwundert starrte ich Helena an, die im Türrahmen erschien. Sofort sank meine Laune wieder ein wenig. Ihr Blick huschte einen Moment lang überrascht zwischen uns hin und her, dann lächelte sie schmal.

"Entschuldigt bitte. Ich wollte euch nicht stören. Ich wollte eigentlich nur kurz mit dir sprechen, Raven." Irritiert wanderte mein Blick von meiner Schwester zu dem Dämon, der diese jedoch ebenso überrascht anblickte wie ich. Was konnte Helena nur von ihm wollen?

"Ich komme einfach wieder, wenn es besser passt", schlug sie schnell vor und wollte sich umdrehen und die Tür wieder schließen. Raven jedoch erhob sich geschmeidig von meinem Bett und schüttelte den Kopf, bevor er eine leichte Verbeugung in Richtung meiner Schwester machte. Eine Locke seines glänzenden Haares fiel ihm in die Stirn und fesselte für den Bruchteil einer Sekunde meine Aufmerksamkeit.

"Nein, du störst nicht. Wenn du reden möchtest, lass uns reden." Einen Moment lang stand Helena reglos da, schien vollkommen fehl am Platz in ihrem strahlenden cremefarbenen Kleid und mit der funkelnden Krone im Haar. Schließlich seufzte sie in die erwartungsvolle Stille hinein. "Ich würde gerne mit dir alleine reden, wenn das möglich ist."

Nun war es an mir, einen Augenblick lang überrumpelt zu erstarren. Dann runzelte ich die Stirn. Helena wich meinem Blick aus. Was sollte das? Wieso wollte sie alleine mit Raven reden?

Wie auf ein Kommando hin spürte ich, dass sie sich erneut an die Oberfläche drängen wollte, um das eifersüchtige Stechen in meiner Brust auszunutzen. Sie besprechen bestimmt nur, wie es für Raven hier im Schloss weitergehen wird, redete ich mir ein und versuchte meinen rasenden Puls zu beruhigen. Krampfhaft ignorierte ich die Frage, warum sie so etwas alleine besprechen mussten. Meine Eifersucht und das Misstrauen gefielen mir überhaupt nicht.

Stumm beobachtete ich, wie Raven meiner reizenden Schwester aus dem Zimmer folgte. Bevor er die Tür hinter sich schloss, suchten seine Augen die meinen und schienen mit einem Mal voller Wärme und Zuneigung zu strahlen. Ein wenig beruhigt lächelte ich und atmete tief durch, als sich die Tür schloss.

Die Stille, die mich nun umfing, war dröhnend laut. Ich starrte das dunkle Holz der Tür an und kämpfte mit mir. Tu's nicht!, schrie mein Gewissen, doch eine andere Stimme redete auf mich ein, dass es nichts Gutes sein konnte, was sie besprachen.

Soll ich oder nicht...?

The Moon PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt