Kapitel 8

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  Ich schlinge die Arme um meine angewinkelten Beine und lasse meinen Kopf in die Kuhle zwischen den Knien sinken. Dies ist mit Abstand das schlimmste Weihnachtsfest gewesen, was ich je erleben musste. Ich bin zwanzig Jahre alt und weine wie ein Kind. Werde doch endlich erwachsen!

  Ich vermisse meine Eltern, meinen Bruder, ja, sogar Alfie fehlt mir. In der letzten Woche habe ich ihn zweimal besuchen können, habe mein Geld für Bustickets gespart. Und während ich so an den klapprigen Rollstuhl und die fehlenden Beine denke, höre ich die Böller in den Straßen explodieren. Vielleicht werde ich um Mitternacht aus meiner Ecke kriechen und den wunderschönen Himmel betrachten. Es wird das letzte Schöne sein, was ich in diesem Jahr zu sehen bekomme, da ich weiß, dass die meisten sowieso zu früh mit dem Spektakel der vielen Farben anfangen werden.

  Ich schaue hinüber zu dem dunklen Firmengebäude indem sich die hellen Sterne spiegeln und sehe zu seinem Büro hinauf. Aber heute arbeitet niemand mehr. Sie sitzen bei ihren Familien...trinken Wein und essen schick. Und ich sitze hier ganz allein... Und als ich den Obdachlosen-Spikes abermals einen bösen Blick zuwerfe, wird aus dem Selbstmitleid purer Hass. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Hamilton sich am selben Tag, an dem er auf die Liste, auf der meine Eltern stehen, gekommen war, und sich dann wieder zurück auf die Liste der Personen, die ich am meisten hasste an oberster Stelle drängte. Ich muss wirklich an meiner Einschätzung von Menschen arbeiten, damit ich im Leben vielleicht doch noch ein Stückchen weiter komme.

  Ich bemerke, wie mit jedem Böller, der Knall lauter wird. Vorsichtig richte ich mich auf und wickel die dunkelrote Decke ganz fest um meinen zitternden Körper. Doch als mein neugieriger Kopf aus meinem Versteck ragt, sehe ich das flammende Ende und die sprühenden Funken des roten Stabes, welcher direkt vor meinen blauen Stoffschuhen gelandet ist und ich falle vor Schreck mit einem ohrenbetäubenden Kreischen zurück, bevor der laute Knall des Böllers ein schrilles Piepen in meinen Ohren hervorruft. Ich bekomme starke Kopfschmerzen und sehe verschwommene, dunkle Gestalten, die sich vor dem Eisdieleneingang tummeln. Ich fasse mir an den Kopf und kann die Farbe der Flüssigkeit auf meinen Fingern nicht erkennen, weil es zu dunkel ist.  Aber ich kann mir schon denken, dass sie meiner Decke ähnelt, welche den Aufprall wenigstens ein bisschen weniger schmerzvoll machen konnte.

  Plötzlich sehe ich immer mehr Funken und ein Chaos an zischenden Geräuschen, die sich um mich herum sammeln. Sie fliegen über meinen Kopf, an meinem linken Ohr vorbei, einer landet sogar in meinem Haar und ich huste auf, als es beginnt nach Schwarzpulver zu riechen und der Rauch in meine Nase tritt.

"Hört auf!", schreie ich hilflos. Aber mich hört niemand.

 Es folgen noch drei weitere Explosionen und dann ist es endlich vorbei, als die Gestalten die Straße hinunter, gefolgt von schallenden Gelächter, verschwinden.

"Zischt ab!", höre ich jemanden rufen und ein weiterer Schatten taucht auf, der in einem rasenden Tempo auf mich zu gerannt kommt.

"Bitte, lassen sie mich!", stammele ich und kneife meine Augen vor Angst zusammen.

"Keine Sorge...ich werde ihnen nichts tun." Und aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass ich diese Stimme nicht zum ersten Mal höre.


  Als ich aufwache, sind die Schmerzen im Kopf wie weggeblasen und auch meine Sicht ist wieder glasklar. Und ich liege in einem Bett. In einem richtigen, weichen Bett. Ich kann noch nicht wach sein, ich muss träumen! Wenn dies der Fall ist, dann ist es ein sehr, sehr schöner Traum. Oder sterbe ich? Bin ich im Himmel?

  Eine Tür öffnet sich und eine kleine, schwarz haarige Frau mit einem Tablett in der Hand kommt herein.

"Sie sind wach.", stellt sie mit einem freundlichen Grinsen fest und das Tablett landet auf dem kleinen Tisch neben mir. Meine erfreuten Augen wandern über eine prachtvolle Auswahl an Essen. Ich sehe Brötchen in verschiedenen Formen und Farben, die ich sonst nur in der Theke einer Bäckerei bewundern kann. Kleine viereckige Döschen mit Bildern von Früchten, eine in Scheiben geschnibbelte Banane und Besteck. Ich habe noch nie mit echtem Besteck aus Metall gegessen und ich weiß gar nicht wirklich, wie ich damit umzugehen habe.  

 "Ich glaube da muss ich ihnen widersprechen.", antworte ich mit erhobenen Augenbrauen.

"Was möchten sie trinken? Ich kann ihnen verschiedene Teesorten anbieten oder auch ein Glas Milch, wenn sie wünschen?" Definitiv im Himmel.

"Milch, danke." Ich kann mich nur noch an den letzten Knall des Böllers erinnern, danach sind meine Erinnerungen nichts als ein dunkler Raum, indem meine Augen rein gar nichts erkennen können. Ich muss im Himmel sein, in Gottes Händen. Ich habe mein ganzes Leben lang ums Überleben gekämpft, spätestens jetzt darf auch selbst ich es mir für einen Moment lang gut gehen lassen.

  Die nette Frau verschwindet aus der Tür und ich starre aus den riesigen Fenstern des Schlafzimmers auf den funkelnden Himmel. Die Uhr neben dem Tablett verrät mir, dass es noch nicht soweit sein kann. Ich wusste doch, dass der Großteil mal wieder zu früh ihren Stoff abfeuern würde.

  Sekunden später öffnet sich wieder die Tür, aber von der schwarzhaarigen Frau ist keine Spur zu sehen. Ein Mann in Jogginghose und weißem T-Shirt mit einem Glas Milch in der Hand betritt das Zimmer. Es ist Hamilton. Hamilton der Anzugträger, für den ich solch einen Hass entwickelt habe, dass ich ihm sonst was an den Kopf werfen könnte. Aber was macht er hier? Was macht er in meinem Traum? ...Meinem Ende...

"Rosa sagte mir, Sie seien aufgewacht, also wollte ich mal nach Ihnen sehen." Die Stimme erscheint mir ruhiger als sonst, tiefer.

"Was ist passiert?", möchte ich endgültig wissen und schaue zu ihm auf, als er das Glas mit Milch auf das Tablett abstellt. Er tritt zum Fenster und verschränkt seine Arme.

"Eine Horde Jugendlicher hat Sie bedroht. Durch das Chaos haben Sie Ihr Bewusstsein verloren." Ich bin nicht im Himmel...und das ist auch kein Traum. "Das ist das Gästezimmer. Ich dachte in einem Bett könnten Sie sich besser erholen, als irgendwo auf dem Asphalt im kalten London."

"D-Danke.", stammele ich und schlürfe an meiner Milch. "In wenigen Minuten ist es soweit.", sage ich und stehe aus dem gemütlichen Bett auf, um zu Hamilton ans Fenster zu gelangen. Erst dann fällt mir auf, dass ich nicht mehr meine alten Klamotten trage. Ich hoffe, dass Rosa sie gewechselt hat und niemand anderes. Aber das ist nun auch egal, da ich es nicht mehr rückgängig machen kann, dass mich irgendwer nackt gesehen hat.

  Es ist ein atemberaubender Ausblick von hier oben.

"Meinen Sie nicht, sie sollten sich noch ein wenig ausruhen?", fragt er mich, während er in die Ferne schaut. Ich erkenne sein ernstes Gesicht im Fensterglas.

"Ich darf doch nicht verpassen, wie ein neues Jahr voller Hoffnungen beginnt. Es ist das letzte Schöne, was ich dieses Jahr noch zu sehen bekomme.", antworte ich und versuche selbstbewusst und ehrgeizig zu klingen,  merke aber, wie sein Blick zu mir herunter wandert.

  Dann stelle ich mir die Frage, warum Hamilton den Rutsch ins neue Jahr allein verbringt. Ein Mann wie er, hat doch sicherlich eine große Familie. Seinen Vater habe ich ja bereits kennengelernt.

  Und selbst, wenn ich immer noch wütend auf Hamilton bin, kann ich mein Jahr nicht in Hass und Zorn enden lassen.

  Und als auch ich in seine kalten, blauen Augen hinaufschaue,bemerke ich die vielen bunten Funken in ihnen und das laute Geknalle von draußen, und plötzlich erscheint es mir nicht mehr wichtig,... aus dem Fenster zu schauen. Denn so sehr ich ihn auch verachten mag, er hat mir das Leben gerettet.


  Dabei liegt das Schöne direkt vor meinen Augen.


Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt