Kapitel 28

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Noch nie habe ich ein Croissant gegessen. Noch nie habe ich so etwas Leckeres essen dürfen. 

"Man schmeckt definitiv die Butter.", scherze ich, nachdem Rosa mir verraten hat, dass es ein Butter-Croissant ist. Auf der Straße kann man sich diese Köstlichkeiten nicht leisten. 

"Morgen wird es dann ein Käse-Croissant." Mein breites Lächeln verwandelt sich in ein unsicheres Schmunzeln, bis ich mit dem Kauen aufhöre.  "Was ist?", fragt sie mich. 

Du gehörst hier nicht her! 

Du gehörst hier nicht her! 

Du gehörst hier nicht her!

Hamiltons Stimme hallt durch meine Gedanken. Mir ist sehr wohl bewusst, dass er diese Worte nie in den Mund genommen hat, aber ich weiß auch, dass er es jeden Moment tun könnte. Und während sich in meinem Kopf mal wieder ein Stau an Gefühlen bildet, wird mir klar, dass ich wahrscheinlich selbst das größte Problem bin. Vielleicht ist es genau diese Angst, dass er die Worte aussprechen würde, die mich so verwirrt. Und Verwirrung lässt mich generell die falschen Entscheidungen treffen. Ist es denn nicht die richtige Entscheidung?

"Wenn ich dann morgen noch hier bin." Der Satz hat viel mehr Bedeutung, als Rosa es wahrscheinlich erwarten würde. Es waren die letzten Worte, die mein Bruder zu mir sagte, wenn auch nur in meinen Träumen. Es war der Satz, der mich monatelang alleine auf den Straßen von London begleitete. 

Morgen werde ich in die Oxford Street gehen -- Wenn ich dann morgen noch hier bin.

Morgen  werde ich mir eine volle Tüte mit Mittagsbrötchen kaufen -- Wenn ich dann morgen noch hier bin.

Morgen werde ich genug Geld zusammenschnorren -- Wenn ich das Geld dann noch gebrauchen kann, wenn ich dann noch hier bin.

"Wie meinst du das? Mr. Hamilton wird dich doch wohl nicht rausschmeißen wollen, oder?" Ein eiskalter Schauer rollt mir über den Rücken. "Er wird doch wohl nicht den Helden spielen wollen, um wenige Tage später der Schurke zu sein!" Rosas schwarzes Haar ist in einem strammen Zopf nach hinten gebunden. Zur Zeit ist das Bewundern der Sorgfalt ihrer Frisur die einzige Ablenkung, die mich nicht an Damien erinnert. Aber da er ja sowieso Gesprächsthema Nummer 1 ist, bringt selbst dieser Versuch nichts. "Birdie, ich werde es nicht zulassen, dass er dich gehen lässt!" 

"Aber wenn auch ich es so möchte?", krächze ich und greife nach dem kalten Kakao, in der Hoffnung, meine Sorgen herunterschlucken zu können. Aber auch dieser Versuch bleibt ohne Erfolg. 

"Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du lieber auf der kalten Straße sitzt, als auf einer weichen Matratze, eingekuschelt in eine warme Bettdecke!"

"Ich hatte mein ganzes Leben lang keine andere Wahl, also warum sollte es mir jetzt etwas ausmachen?" Bei den grausamen Erinnerungen, die ich auf der verdreckten, nassen, harten und kalten Straße sammeln musste, erstarrt mein Körper in einer unangenehmen Gänsehaut. 

"Birdie, hör' auf dir selber so einen Mist einzureden! Das hier kann dein neues Zuhause sein, wenn du es nur annehmen würdest. Ich glaube nicht, dass Mr. Hamilton dich in nahe Zukunft loswerden will!" 

"Aber was, wenn ich ihn...du weißt schon, loswerden will..." Ich merke es kaum, aber ich stottere und mache viel zu lange Pausen zwischen den Wörtern. Und ich überlege. Ich überlege wieder einmal viel zu lange nach. Warum fällt es mir bloß so schwer, die Worte auszusprechen?

"Ah." Rosa mustert mich mit einem nachdenklichen Blick. "Ich denke, ich weiß, wo die Wurzeln deines Problems liegen." 

"Und das wäre dann wo, bitte?" Dann kann ich sie endlich rausreißen, damit sie ja nicht größer werden. Oder ich werde sie durchschneiden, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie dann weiter wachsen und ein neues Problem bilden. 

"Ich denke, du weißt selbst kaum, was du willst, habe ich Recht?" Ich nicke zögernd. "Und ich denke, du hast Angst. Du hast Angst vor Enttäuschung, nicht wahr?" Ich nicke ein weiteres Mal. Wenn ich Rosa eine Gabe zuordnen müsste, die sie beschreibt, dann wäre es die Gabe, dass sie so ziemlich immer weiß, was ein Mensch gerade durchmacht oder wie er sich fühlt. Sie beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. 

"Wir haben uns geküsst. Zweimal.", kommt es aus mir heraus geschossen, wie aus einer Pistole. Dann presse ich meine Hände vor den Mund. Mist! Das wollte ich nicht sagen! 

Rosas Augen weiten sich, doch dann fängt sie an zu schmunzeln. "Das hätte ich mir doch denken müssen. So wie er dir tagtäglich hinterher schaut. Die Blicke, die ihr gegenseitig austauscht. Das sind alles Beweise dafür, dass du uns nicht so schnell loswerden wirst. Mr. Hamilton und mich, meine ich natürlich." Ich kann nicht anders, als ebenfalls blöd zu schmunzeln. 

"Du bist verrückt.", lache ich und meine Hände wandern zu meiner heißen Stirn. 

Rosa lehnt sich zurück und drückt eines der Sofakissen gegen ihren Bauch. "Nicht, dass es mich interessieren würde, aber wie war es denn so?" Das Grinsen auf ihren Lippen scheint langanhaltend zu wirken. 

"So gar nicht, wie ich mir meinen ersten Kuss vorgestellt hatte.", gebe ich zu und reiße ihr das Kissen aus den Armen, um es mir vor das Gesicht zu halten. Ich schäme mich so... Wie kann ich bloß so reden? Das bin so gar nicht ich! 

Bevor Rosa zu Wort kommen kann, hören wir das Klingeln der Fahrstuhltüren und ich drehe mich schlagartig um. Doch beim Anblick des verschwitzten, aufgebrachten Anzugträgers, bleibt mir die Spuck im Hals stecken. Die blutunterlaufenen Augen finden mich, sobald er den ersten Schritt in das Wohnzimmer macht. Das Jacket in seinen Händen fällt zu Boden.




Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt