Kapitel 5

35.9K 1.9K 122
                                    

 Als ich aufwache, ist das tagelange Kratzen im Hals verschwunden. Und auch die eiserne Kälte hat sich verabschiedet. Während das verschwommene Bild langsam scharf wird, wird mir bewusst, dass es kein Blut ist. Das Dunkelrot hat mir zuerst Angst eingejagt, bevor ich bemerke, was es wirklich darstellt. Eine weiche Decke.  Die Decke, die ich gestern vor dem Laden entdeckt hatte, die viel zu teuer war. Ich muss träumen. Sie hält mich viel wärmer als die, die nun Meredith mit sich rumschleppt. Wach auf! Aber ich bin wach.

  Tausend Bilder schießen mir durch den Kopf. Ich liege im Eingang der Eisdiele, während mich jemand beobachtet, der mich auch gestern beobachtet haben muss. Die Person starrt mich an, legt die Decke über meinen zitternden Körper und verschwindet wieder. Ich sehe Chaplin, wie er voller Freude und Begeisterung die Decke beschnüffelt und die Tochter, die sich eine Geschichte ausmalt, woher die neue Decke denn kommen mag. Aber zu aller erst fällt mir der lästige Stein vom Herzen und ich strahle über beide Backen. Ich kann es kaum glauben, dass mir jemand diesen Gefallen machen wollte.

  Meine Gedanken vertiefen sich in der Suche nach dem warmherzigen Helfer und ich denke an den Jogger, der mir vorgestern das Geld in den Becher getan hatte. Vielleicht ist er gestern Abend wieder an mir vorbei gejoggt. Aber woher weiß er denn, dass ich mir vor wenigen Stunden genau diese Decke angeschaut hatte? Das kann nicht wahr sein!

  Ich sollte aufhören mir darüber den Kopf zu zerbrechen; viel lieber muss ich dankbar sein und mich darüber freuen, dass ich die nächsten Nächte nicht als Eisblock verbringen werde. Der Schnee ist geschmolzen; morgen ist Weihnachten! Es scheint dieses Jahr ein wirkliches Fest zu werden; kein Schnee, aber Glatteis.

  Mit einer prickelnden Freude unter meiner Haut, wickel ich die Decke um meinen dürren Körper und greife meinen Becher. Ich habe immer noch ein wenig Restgeld von gestern, damit ich mir etwas Mineralwasser kaufen kann, da ich ja noch Brötchen übrig habe. Sicherheitshalber greife ich auch nach der Brötchentüte, da ich nach Meredith und zahlreichen anderen wirklich niemanden mehr vertrauen kann. Ich teile gerne, aber nicht, wenn ich in der darauf folgenden Nacht von ihnen beklaut werde.

  Mit der federleichten Beute, dafür aber der besten Decke, die sich jemand in meiner Situation wünschen kann, bewege ich mich auf die Drogerie zu. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt, aber im Winter komme ich hier immer her, da es nicht so teuer ist, wie in den Supermärkten. Mit unzählbaren, verdutzten Blicken auf meinem dunkelroten Rücken, finde ich das Mineralwasser in einem der vorderen Gänge und bezahle es an der überraschend leeren Kasse, wo ich nur von einem weiteren, schiefen Blick entgegen genommen werde.

 Die blauen Stoffschuhe rutschen auf dem Asphalt umher, als ich die Straße entlang schlürfe und mich an einigen Ständen vom Weihnachtsmarkt umschaue. Wunderhübsche Lichter, die im Nebel funkeln. Ich trete näher heran und betrachte die lodernde Flamme, die nur schwer durch das dichte Muster der Papierlaterne zu erkennen ist. Ich bin wie verzaubert. Feuer ist viel mehr, als  gefährlich. Es hat uns das Leben geschenkt, was wir heute führen können. Was die anderen führen können. Meine Mutter erzählte mir immer, wie viel Einfluss das dynamische Element, welches ich mich als Kind nie nähern durfte,  auf unser Leben hat. Die Flamme erinnert mich an das Flackern in ihren Augen, ihre warmen Hände und das ständige Lächeln in ihrem Gesicht. So wunderschön!

"Gefällt es ihnen?" Ich blicke auf in stahlblaue Augen, die all die Wärme aus meinem Körper entziehen, sodass mir nicht einmal meine neue Decke eine Hilfe ist.

"N-nein. I-ich meine, ja!", stottere ich unbeholfen und weiche einen Meter zurück.

"Kein Grund, gleich die Rentiere zu erschrecken!" Plötzlich flackern seine Augen auf und ich denke zurück an die Flamme in der Laterne.

"Wie viel kostet sie?", frage ich vorsichtig und zeige mit meinem Finger auf die strahlende, weiße Laterne, die auf Augenhöhe neben mir schwebt.

"Ich glaube das kannst du nicht bezahlen, Liebling."

Ohne ein Wort zu sagen, gehe ich einen Stand weiter, bis mir die Lust vergeht. All diese hübschen Laternen, Sterne und Weihnachtsdekorationen zu sehen, ist eine Qual. Warum tue ich mir das überhaupt an? Ist es die Hoffnung? Die süße Hoffnung, dass ich vielleicht eines Tages auch einmal Schmuck für meinen eigenen, ersten Weihnachtsbaum einkaufen werde? Obwohl mich am Ende des Tages doch sowieso nur die bittere Enttäuschung begegnen wird!

"Hey! Warten sie!", ruft mir jemand nach, dessen Stimme noch nicht aus meinem Gedächnis ist. Ich drehe mich zu ihm um, als das hübsche Muster auf seinen weichen Gesichtszügen leuchtet. Er hält die Laterne zwischen unseren Köpfen. "Die ist für sie!" Mit tiefen Falten der noch verwirrten Gedanken auf meiner Stirn, nehme ich das Geschenk entgegen. Doch dann beginne ich zu spekulieren. Seine Statur,...er ist ziemlich sportlich...und sein Geschenk. Es ist so ziemlich die selbe Situation. Ich sehe etwas, was mir gefällt, ich es mir alleine jedoch nicht leisten kann, aber kurze Zeit später wird es mir vor die Füße gelegt. Er muss der Jogger sein, dem ich die Zehn zu verdanken hatte und somit meine zunehmenden Überlebenschancen. Er muss es sein, mein Helfer.

"D-Danke.", denke ich, aber bekomme keinen Laut heraus. Eine unangenehme Stille herrscht zwischen uns und als er sich mir abwendet, bin ich mir nicht mehr sicher, ob er es wirklich war, der mir bereits zwei Mal ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Es hätte jeder gewesen sein können. Wirklich jeder. Selbst einer dieser Anzugträger. Selbst der, mit dem Blick; kälter als die frostige Winterluft um mich herum. Ich habe ihn heute noch nicht kommen sehen, aber wahrscheinlich sitzt er gerade in irgendeinem Flieger, der ihn zu dem Rest seiner wohlhabenden Familie bringen wird. Alleine meine Erinnerung an seine grau-blauen Augen, die sich schon mehrmals von seinem hohen Posten aus auf mich fixiert haben, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, dass sogar die dunkelrote Decke keine Wunder bewirken kann. Ich habe mich schon immer vor diesen Anzugträgen gegrault, aber bei ihm kennt meine Abneigung keine Grenzen.

  Zu gerne würde ich ihm meine Meinung ins Gesicht sagen, auch wenn ich ihm dabei nicht ansehen könnte...

...weil ich mich trotzdem zu sehr für das schäme, was ich bin; ein Nichts!

Ein Nichts für ihn! Ein Nichts für die Leute auf den Straßen! Ein Nichts für die Nation, London, Europa, die Welt! Und ich höre mich an, wie mein Vater.

Und ich bin gefangen in meinem aufgewühlten Gedächnis, sodass ich ganz und gar die brennende Laterne in meinen Händen vergesse.



Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt