Kapitel 1

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Die frostige Luft umhüllt meine Waden, wie eine unsichtbare Decke, die alles andere als ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Ich zittere am ganzen Körper. Mir ist so kalt. Das Stechen, ausgelöst durch den Schnee unter meinem Hintern, lässt mich nahezu erfrieren. Ich versuche meinen Atem zu verlangsamen, aber es funktioniert einfach nicht. Die Luft ist zu kalt, zu unangenehm. Meine Kleidung ist bereits durchnässt und kaum noch eine Hilfe, um mich auf irgendeine Art warm zu halten.

Ich vermisse das Gefühl, aufzuwachen und von der strahlenden Sonne begrüßt zu werden. Ich vermisse den warmen Wind, der meine Haare verwuschelt. Die vielen Menschen an mir vorbeigehen zu sehen, die mit einem breiten Grinsen in die Innenstadt kommen, um ein Eis zu verschlingen. Verdammt, wie sehr ich den Sommer vermisse. Es ist die einzige Jahreszeit, in der die Leute sehr spendabel sein können. Da es ihnen im Frühjahr an dem Geld fehlt, das sie im Winter für zahlreiche Geschenke ausgegeben haben und im Herbst und Winter sie dann schon wieder die neuen Weihnachtsgeschenke kaufen, sind sie in diesen Jahreszeiten nicht dazu bereit, etwas von ihrem Geld mit anderen zu teilen. Im Sommer bekomme ich für jeden Tag mindestens eine warme Mahlzeit zusammen. Man mag denken, dass gerade in den Ferien niemand an uns denken wird, weil jede Londoner Familie tausende an Kilometern entfernt ist, dabei darf man nicht die Urlauber vergessen, die das kalte London für etwas Abwechslung besuchen kommen. Sie bringen das Geld in unsere Kaffeebecher.

Ich höre die Aufregung meines Magens, der gierig etwas Essbares verlangt. Es ist Winter, ich werde nur wenige Cents zusammen bekommen. Außerdem werde ich heute nicht viel Zeit haben, um mich auf meine Einnahmen zu konzentrieren, denn ich werde mich auf den Weg in die Innenstadt machen müssen. Die Straßen dort sind im Winter eine Geldgrube. Ich werde an den Platz gehen, den mir meine Mutter vor Jahren gezeigt hatte--Ein Ladeneingang dessen Besitzerin eine der reizesten Töchter der Stadt hat. Denn auch wenn es ihr verboten wurde, legt sie mir jedes Jahr an genau diesem Tag ein weiches Kissen und eine kuschelige Decke vor die Tür, nachdem sie als Letzte den Laden verlassen hat. Es ist eine Eisdiele, also wird mich ihre Mutter nicht erwischen und auch nicht von der verbotenen Großzügigkeit ihrer Tochter erfahren.

Ich lehne mich gegen die Straßenlaterne, die mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter jagt. Der Papkarton unter mir ist längst durchgeweicht, da hilft auch meine mit Löchern übersehte Jeans, die ich vor einigen Monaten in einem Müllcontainer neben der örtlichen Stofffabrik gefunden hatte, nicht mehr viel. Die einst hellblauen Stoffschuhe von Primark, sehen bereits verdreckt aus und wegen der Nässe könnte man davon ausgehen, dass ich sie eigentlich in dunkelblau gekauft hätte.

Eine weiße Taube fliegt mir vor die Füße und pickt die Reste an Krümel meines Brötchens auf, das ich gestern zusammen gespart bekommen hatte. Ich sehe ihr aufmerksam dabei zu, wie sie ihren Hunger stillt. So einfach hat sie es, findet einfach an den Füßen anderer ihr Frühstück.

"Hätte ich es doch bloß auch so einfach, wie du...", seufze ich leise und stütze mich links und rechts von mir auf dem rutschigen Boden auf. Mein Körper ist erstarrt und beinahe so unbeweglich, dass ich mich wie ein Stock fühle, als ich mich aufrappel, um meine Reise zu beginnen. Es ist nicht sehr weit bis zur Innenstadt, aber ich bin zufuß und habe kaum noch Kraft, um mich auf den Beinen zu halten. Also gehe ich lieber früh am morgen los, damit ich mir am Mittag noch eine warme Nudelsuppe verdienen kann. Gott, ist das kalt. Ich will, dass es wieder Sommer wird. So schnell es geht.

Als ich endlich voll und ganz, so kerzengerade wie die Laterne neben mir, stehe, sehe ich die weiße Taube bereits in der Ferne fliehen, bevor sie einfach nur mit dem Himmel verschmelzt. Alle Brotkrümel sind verschwunden und ich erspähe einen schwarzen Fleck auf meinem durchnässten Karton. Die Taube hat mir doch tatsächlich auf meine Not-Matratze gekackt. Erst schnappt sie sich die Reste meines Essens, und dann hinterlässt sie mir diese respektlose Nachricht. Na herzlichen Dank.

Ich bücke mich nach meinem Stoffbeutel, und es fühlt sich an, als würde jeder einzelne Knochen in meinem Körper ein elendes Knacken von sich geben. Die letzten Wochen haben mir meine restlichen Kräfte entnommen und ich habe ein schmerzendes Kratzen im Hals, das mich auf eine miese Erkältung vorbereiten soll. Das hat mir noch gefehlt. Eigentlich werde ich nie krank-- das letzte Mal als ich mir eine Erkältung zugezogen hatte, ist vier Jahre her, und da habe ich mich bei meinem Bruder angesteckt. Ich habe zwei ganze Wochen gebraucht, um mich wieder voll und ganz zu erholen und gesund zu werden.

...

Ich kann schon die aufgewühlten Menschenmassen hören, als ich am Chinawhite-Club vorbeigehe, vor dem sich meine Eltern zum erste Mal gesehen hatten, und ich mir sicher bin, dass ich mich unmittelbar vor der Oxford- aka. Einkaufsstreet befinde. Jeder Zentimeter ist mit weihnachtlichen Dekorationen bestückt und man hört die Gesänge der Engel, die sich hier jedes Jahr zusammenfinden. Ich rieche den leckeren Duft der gebrannten Mandeln und ein Hauch an Zimt liegt in der Luft. Wie sehr ich mir eine Tüte kaufen möchte...aber sie sind viel zu teuer und ich habe noch kein Frühstück gegessen.

Das unbeleuchtete Schild, welches trotz des Schneeüberfalls von gestern Nacht in voller Pracht glänzt, ist eine Erleichterung für meine Seele. Hier werde ich meinen Winter verbringen; eingehüllt in die warme Decke, die eigentlich dem Hund, Chaplin, gehört, wenn er im Sommer vor der Eisdiele sitzt und versucht den Laden zu beschützen. Jamie wäscht sie mir, bevor sie sie mir vor die Tür legt. Das Kratzen im Hals wird schlimmer und ich wickel meinen dünnen Schal enger um meinen kalten Hals. Die Menschen um mich herum ignorieren mich, da sie eine Eisdiele im Winter sowieso nicht interessiert. Mit einem dankbaren Grinsen finde ich die dunkelrote Decke vor, die angenehm nach Vanille duftet, als ich sie mir gegen meine wahrscheinlich gerötete Nase halte. Der sanfte, kuschelig weiche Stoff tut mir gut und ich lasse mich auf alle Viere fallen.

Erst in diesem Moment bemerke ich, dass etwas anders ist, als sonst. Es hat nichts mit der Eisdiele oder der kalten Jahreszeit zu tun, aber dieses Gebäude....gegenüber von mir--das muss neu sein! Ich beuge mich ein wenig vor, damit ich es unter dem Schild hindurch in voller Pracht begutachten kann. Es ist wahnsinnig hoch, selbst die Säulen reichen mindestens dreißig Meter in die Höhe. So hoch, dass wenn ich auf einer von ihnen stehen könnte, einen Schwindelanfall bekommen würde. In jeder Etage kann man durch die Glasfenster edle Büroräume erkennen und auch der Eingangsbereich ist mit silbernen Ornamenten verziert, sodass es noch teurer wirkt. Die amerikanische Flagge unter dem Namen der Firma, ist schlicht gehalten und farblos, also kann man sie nur erkennen, wenn man den Aufbau der Sterne und Streifen kennt. Ich habe keine Ahnung, wie die Firma heißen mag, da ich nicht, wie all die anderen englischen Kinder, die nicht obdachlos sind, in die Schule gegangen bin. Meine Mutter brachte mir das Sprechen bei und das Rechnen von unseren Einnahmen...aber unsere Zeit war begrenzt. Kaum fanden wir einen stillen Moment, in der sie mir hätte beibringen können, wie man Brot, Freude, Liebe, oder Nähe buchstabieren muss. Aber ich wünschte, wir hätten die nötige Zeit gehabt, da ich unbedingt wissen möchte, unter welchem Namen dieses Gebäude getauft ist und was es hier zu suchen hat.

Auf der gegenüberliegenden Straße stehen zwei Männern in Anzügen, dabei fällt mir besonders der in grau gekleidete der beiden auf. Er wirkt deutlich jünger und starrt mit seinem Blick, der noch kälter als die Winterluft ist, zu mir rüber. Sein perfekt liegendes Haar verändert sich auch nach dem Windstoß nicht einen Zentimeter. Die Symbolik der Situation ist kaum zu ignorieren. Er in seinem Anzug, der bestimmt mehrere hundert Dollar gekostet haben muss, vor dem noblen Gebäude...gegen mich, eine in eine Hundedecke eingewickelte Obdachlose. Selbst ein Blinder würde es erkennen; er schaut zu mir herunter, macht sich einen Spaß daraus. Und nun bemerkt auch der ältere Mann meine Anwesenheit, schaut jedoch schnell zu seiner teuren Uhr hinab, bevor er seinen Arm um die Schultern meines Beobachters legt und sie zusammen in ihr Imperium verschwinden. Ich bin mir sicher, dass es der Chef und sein Sohn waren.

Aber ich versuche meine Gedanken zu ignorieren und greife in meinen kleinen Beutel nach dem Kaffeebecher; Es wird Zeit mir mein Frühstück zu verdienen.


Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt