Kapitel 4

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  Nachdem mich die Dämmerung aus meinem unruhigen Halbschlaf geweckt hat, mache ich mich sofort auf den Weg zum nächsten Textilgeschäft. Zehn...Ich kann es immer noch nicht fassen. Zum Glück ist es noch früh am morgen, denn ich habe seit einer Woche nicht mehr geduscht und ich wette, dass ich im Gesicht wie eine Leiche aussehe. So möchte ich niemanden über den Weg laufen. Meine langen, zerzausten Haare wehen mir ins Gesicht, während ich mit einem Grinsen auf den Lippen die Oxford Street entlang schlürfe. Ich kenne mein Ziel, den billigsten Laden, bei dem ich mir sicher bin, dass sie Decken verkaufen; Primark.

  Schneller als gedacht stehe ich unter dem blau-leuchtenden Schild. Wer kennt das Geschäft denn auch nicht? Selbst jemand wie ich, der die Buchstaben eigentlich keinem Wort zuordnen kann, weiß, was Primark ist. Als ich mir meine Schuhe gekauft hatte, war ich diejenige in der Schlange zur Kasse, die mit Abstand am wenigsten in der Hand hielt. Die Tüte, die ich nach meinem Einkauf bekommen hatte, nutzte ich zu meinem Vorteil und versuchte daran wenigstens die Buchstaben, die in dem Wort vorhanden sind, zu lernen. Ich wusste, wie sie ausgesprochen wurden...aber nach nur wenigen Minuten gab ich es auf. Es war aussichtslos, sich auf der Straße Lesen lernen beizubringen, wenn man auf sich allein gestellt ist.

  Von Weitem habe ich bereits gesehen, wie eine der vielen Mitarbeiterinnen die Tore zu meinem Glück aufgeschlossen hat; es dürften also noch nicht allzu viele Kunden hineingestürmt sein. Ich betrete das Geschäft mit hohen Erwartungen und begebe mich sofort in die Abteilung mit den Kissen, Bettbezügen und Decken. Als ich an einem eingepackten Packet mit weinroten Bett- und Kissenbezug vorbeigehe, sehe ich in meinen Gedanken ein harmonisch eingerichtetes Zimmer, welches nur leicht beleuchtet ist und ein King-sized Bett meinen Namen ruft. Die Bettwäsche sieht verlockend aus...aber ich besitze kein Bett, daher wäre es sinnlos, mein Geld dafür zu verschwänden, außerdem suche ich sowieso nach etwas anderem. Also hör' auf, hör'...Birdie. Hör' auf sinnlos für etwas zu schwärmen, was du dir nicht erlauben kannst!

    Suchend nach einer weichen Fließdecke für Chaplin, gehe ich die wenigen Gänge entlang, aber werde einfach nicht fündig. Komisch...Ich war mir sicher gewesen, dass es hier welche geben würde.

"E-Entschuldigen sie? Ich suche die Fließdecken!", spreche ich eine kleine, dunkelhaarige Verkäuferin an, die gerade eine Reihe an Dekogegenständen in eines der Regale räumt. Sie erinnert mich ein wenig an Meredith..., die mich erst in diese Lage gebracht hat. Ohne sie, hätte ich nicht früh am morgen aufstehen müssen, mich in Primark begeben oder diese Verküferin ansprechen müssen. Hätte ich doch bloß von Anfang an auf mein mulmiges Gefühl gehört. Jetzt ist es sowieso zu spät.

"Das tut mir leid...die Fließdecken sind uns gestern ausgegangen und bisher haben wir noch keine neue Ware geliefert bekommen, da sie alle mit Weihnachtsmotiven bestickt waren...und Weihnachten ja in nur wenigen Tagen schon wieder vorbei ist." Ihre braunen Augen schauen mich entschuldigend an und der Stein, den ich schon seit einigen Stunden loswerden wollte, fällt mir nicht vom Herzen. Stattdessen begrüßt mich die pure Verzweiflung. In der Oxfordstreet werde ich keinen billigeren Laden finden...

"Können sie mir bitte das aktuelle Datum nennen?", frage ich vorsichtig und beiße ängstlich auf meine Unterlippe.

"Es ist der 22. Dezember. In zwei Tagen ist es soweit." Ihr warmes Lächeln umfasst den Stein, der meinem Herzen Sorgen bereitet, und macht den Anschein, als würde sie mir helfen wollen, aber dann erinnere ich mich an Chaplin und das wahrscheinlich enttäuschte Gesicht von der Tochter der Eisdielenbesitzerin...und ein mieser Schauer überfällt mich.

"Trotzdem danke für ihre Hilfe. Schöne Weihnachtstage ihnen." Ich quäle ein Grinsen auf meine Lippen, obwohl ich viel lieber weinen würde.

  Als ich entlang der Oxfordstreet wieder zurück zu meinem Platz gehen will, fährt einer der Anzugträger-Schlitten mit verdunkelten Fenstern an mir vorbei. Es ist sein Wagen, ich erkenne ihn sofort. Dieses Auto, unter all den anderen, sticht aus irgend einem unerklärlichen Grund am stärksten hervor. Ich möchte ihn keine weiteren Sekunden an verschwendeter Aufmerksamkeit schenken, und sehe hinunter auf meine in der Nacht getrockneten Stoffschuhe von Primark. Diesen Moment habe ich nur mit Anzugträgern, der Moment in dem in nur einem Augenaufschlag Arm und Reich auf einem Silbertablett präsentiert werden. Täglich muss ich es ertragen, dass du zu sehen, was ich nicht haben kann.

   Das Auto hält vor seiner Firma und wie ich es schon erwartet habe, steigt er aus, um mit selbstbewussten Schritten durch die Eingangstür zu seinem, wie mein Bruder jetzt sagen würde, Imperium zu verschwinden.

  Mein knurrender Magen lenkt mich von den Ereignissen am morgen ab und ich begebe mich zum Bäcker, um mir eine volle Tüte Mittagsbrötchen zu gönnen. Ich denke nicht, dass ich heute eine warme Mahlzeit herunter bekommen könnte, also kaufe ich mir zusätzlich noch einen heißen Kakao, mein Lieblingsgetränk und eine wahre Sünde, der mich jedoch von innen auftauen wird. Ich komme an einem Geschäft vorbei und erspähe einen Ständer mit zahlreichen Fließdecken, unter anderem einer dunkelroten. Wahrscheinlich ist dies der Laden, von dem die Besitzerin Chaplins Decke gekauft hatte, bevor sie Meredith mir weggenommen hat.

  Mit einem unwohlen Gefühl schaue ich auf das Preisschild... 25...zu teuer!

Mist!

  Jetzt fühle ich mich nicht nur schlecht, weil ich mir von dem Geld etwas zu Essen und einen Kakao gekauft habe, sondern auch, weil ich mit einer so teuren Decke so leichtsinnig umgegangen bin. Hätte ich doch bloß besser aufgepasst!

  Als ich mit einer niedergeschmertterten Laune wieder an meinem Schlafplatz am Eingang der Eisdiele angekommen bin, setzte ich mich auf den kalten Boden. Ich darf einfach nicht daran denken...Ich habe schließlich noch ein paar Wochen Zeit, um eine neue, dunkelrote Decke für Chaplin zu kaufen. Ich denke, bis dahin muss ich mich erst einmal um mein Überleben kümmern. Also habe ich alles richtig gemacht...

  Während ich in mein Mittagsbrötchen beiße und zwischendurch an dem mittlerweile lauwarmen Kakao schlürfe, locken die hohen Säulen meine Augen zu seinem Büro...und es wundert mich nicht, dass er wieder einmal am Fenster steht und auf mich herab schaut, als wäre ich der Dreck unter seinen Füßen.

Dieses...Arschloch.


Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt