Träume sind grausam

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Letzten Sommer:

In visions of the dark night
I have dreamed of joy departed
But a waking dream of life and light
Hath left me broken-hearted.

Es war die dritte Stunde an einem Donnerstagvormittag, als Nika im Englischunterricht saß und sich wieder und wieder das Gedicht ‚A Dream' von Edgar Allan Poe durchlas. Das Gedicht wurde gerade im Literaturkurs bearbeitet und nun sollten die Schüler in Partnerarbeit die Stilmittel ausfindig machen.

Ah! what is not a dream by day
To him whose eyes are cast
On things around him with a ray
Turned back upon the past?

Ihr Partner war allerdings einer der Schüler, die sie Tag für Tag beleidigten und auch wenn Nika die Beleidigungen und Schriftzüge in den Ecken der Hemingway-High so gut es ging ignorierte, sträubte sich alles in ihr gegen diese Zusammenarbeit. In den letzten Wochen hatte sie eine Art natürliche Abneigung gegenüber dieser einen Clique entwickelt und das schloss auch den blonden Hünen nicht aus.

Liam schien das ganz ähnlich zu sehen, denn er lehnte sich nur zurück und ließ Nika ihre Arbeit machen.

That holy dream, that holy dream,
While all the world were chiding,
Hath cheered me as a lovely beam
A lonely spirit guiding.

"Ich mag dieses Gedicht.", murmelte Nika in Gedanken versunken.

„Es sind nur leere Worte.", erwiderte Liam und Nika blickte auf. Liam hatte die Krawatte nur locker gebunden und an dem Hemd standen die ersten zwei Knöpfe offen. Ganz der lässige Footballer, der er sein wollte.

„Eben nicht", sagte sie, „Sie erzählen eine Geschichte."

„Und was ist das für eine Geschichte?", Liam lachte und Nika verdrehte die Augen. Nur ein weiterer hirnloser Sportler, der die Ansicht vertrat, das gutes Aussehen und Daddys Geld ihm schon durchs Leben helfen würden. „Es geht nur um einen Idioten, der sich von Träumen das Herz brechen lässt."

What though that light, thro' storm and night,
So trembled from afar
What could there be more purely bright
In Truth's day-star?

"Aber Träume sind wichtig. Träumen ist wichtig", erklärte Nika, die schon ihr Leben lang zwischen den staubigen Ecken und kaputten Dielen ihres Zuhauses nichts anderes tat.

„Träume sind grausam.", unterbrach Liam sie und hörte auf zu kippeln. "Träume sind grausam, denn sie zeigen dir das, was du willst, aber nie haben kannst."

Für einen Moment schwieg Nika und dachte über Liams Worte nach, die nicht ganz zu dem Bild eines gehirnlosen Idioten passten.
„Und wovon träumst du?", fragte sie schließlich, mehr weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, als dass sie wirklich interessiert gewesen wäre.

Nur weil Arschlöcher manchmal etwas halbwegs Intelligentes sagen, macht sie das nicht weniger arschig.

Liam zögerte kurz.

„Ich träume nicht.", sagte er schließlich und Nika wollte schon die Augen verdrehen, als er hinzufügte: „Mein Leben ist", ein kurzes Zögern, das wahrscheinlich nicht mal er selbst bemerkte, aber in Nikas Ohren widerhallte, „perfekt."

Ein leeres Grinsen auf seinen Lippen und der Liam, den Nika kannte, war wiederhergestellt. Nur hatte sie etwas gesehen. Einen kurzen Blick hinter eine Fassade. Und eine Frage hatte sich in ihren Gedanken festgebissen.

Was hat Liam Smith zu verbergen?

  Was hat Liam Smith zu verbergen?

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