Nur ein kleiner Moment der Schwäche

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Letzten Sommer:

Auch Liam lächelte nun mehr. Und er musste immer wieder an sein Zuhause denken. Nicht an die erhobene Hand seiner Mutter, nicht an den verängstigten Blick seiner Brüder, sondern daran, was noch daraus werden konnte. Es war nicht alles verloren, vielleicht gab es doch noch Hilfe, eine Rettung für ihn und seine Familie.

Nur ein weiteres Mal hatte er mit Nika darüber gesprochen. Hatte ihr erzählt, dass sein Vater trank und dass seine Mutter den Frust ihrer gescheiterten Ehe an ihren Kindern ausließ. Nika hatte zugehört und nichts dazu gesagt, bis auf das Versprechen, dass sie da sein werde, wenn er bereit war sich von seiner Familie zu lösen.

Sie hatte ihn nicht gedrängt, sie hatte ihn nicht mit diesem von ihm verhassten mitleidigem Blick gemustert. Und sie hatte seinen Wunsche verstanden, dass niemals jemand davon erfahren sollte.

Er summte einen Pop-Hit mit, der gerade im Radio lief, während er auf den Parkplatz der Hemingway-High fuhr. Seine Rippen schmerzten von dem gestrigen Abend, den er lieber aus seinen Gedanken verbannte, doch er war glücklich. Weil ein kleiner Funken Hoffnung in seiner Brust gleich hinter seinen geprellten Rippen schimmerte.

Er stieg aus, noch immer vor sich hin summend und ging auf die Hemingway-High zu. Am Eingang erwartete ihn Courtney. Sie war schon immer zickig und anhänglich gewesen, doch seit Liam Zeit mit Nika verbrachte, schien Courtney unerträglich. Sich zusammenreißend ging er kommentarlos an ihr vorbei. Zumindest versuchte er das, doch sie hielt ihn zurück.

„Liam", sie spitze ihre Lippen und ihre Stimme nahm einen weinerlichen Tonfall an, „Es tut mir ja so leid."

Liam legte die Stirn in Falten.

„Was tut dir leid?", fragte er. Ihre Hand steifte seine Brust und er zuckte zusammen, als sie seine Rippen berührte. Er ging genervt einen Schritt zurück.

„Aber ich hätte es mir auch denken können.", fuhr sie fort und alles an ihrer Stimme, an ihrer Mimik erschien ihm so unsagbar falsch. Unecht, alles ein Schauspiel. „Dass sie so etwas tut, nur um dich bloßzustellen. Um sich an uns allen zu rächen. Das sieht einer Schlampe ähnlich."

„Wovon redest du?", schnauzte er sie an und riss sich los. Sie hielt ihm ihr Handy hin.

„Ließ selbst." Auf ihrem Display war eine Seite aufgerufen, die er nur allzu gut kannte. Die ‚Hemingway-High digital together' war eine Plattform mit Artikeln über die Hemingway-High, gestaltet von dem kleinen Jungen mit den dunklen Haaren. Sie nannten ihn nur Moptop, da seine Frisur an die Moptop-Frisuren der Beatles erinnerte.

Doch als Liam die neuste Schlagzeile las, blieb sein Herz unter seinen geprellten Rippen für einen Augenblick stehen.

Liam Smith – Footballstar, Mädchenschwarm und nun auch Opfer häuslicher Gewalt?

Sein Atem ging stockend, jedes Wort fuhr unter seine Brust, erstickten den kleinen Funken Hoffnung, bis sein zerschundenes Herz sich an die Gitterstäbe seines Brustkorbs klammerte, um nicht auch noch von der Dunkelheit der Enttäuschung zerrissen zu werden.

Dort stand sie, die Wahrheit, für jeden Schüler der Hemingway-High sichtbar und nun bemerkte er auch die Blicke seiner Mitschüler um sich herum.

Das sensationshungrige Funkeln, das Getuschel und am schlimmsten ... das Mitleid in ihren Augen. Er hatte es so lange geheim gehalten, hatte sich vor all dem schützen wollen, was nun auf ihn einprallte, diese Demütigung, dieses hilflose Gefühl.

Courtney griff nach seiner Hand, fuhr mit ihren Fingerspitzen seinen Arm hinauf, bis zu seinem Bizeps.

„Es tut mir so leid.", schnurrte sie und Liam ließ es zu. Ließ all das zu, weil er sich genau in diesem Moment fragte, wer Moptop die Informationen für diesen Artikel geliefert hatte. Und sein Blick fiel auf Nika, die gerade den Parkplatz betrat, und sein Herz schrie, als die Dunkelheit es einholte und die bittere Enttäuschung und Wut sein Blut vergiftete.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt