Kein Entkommen

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Zwei Stunden. In diesem Raum gab es eine Uhr. Es waren bereits zwei Stunden vergangen und fühlten sich auch wie zwei Stunden an. Irgendetwas war falsch, gewaltig falsch. Die Menge hatte sich inzwischen beruhigt. Sie saßen auf den Laufbändern der Fabrik und warteten. Manche saßen auf dem Boden, viele standen und viele gingen im Kreis. Einer unten ihnen haute sich sogar den Kopf an die Wand und es sah nicht danach aus, als würde er bald damit aufhören. Sie fühlten sich alle mindestens genauso elendig wie ich. Wie konnte ein Mensch zwei Stunden lang bei vollem Bewusstsein träumen? Lag ich etwa unter einem Koma? O Gott!

Die Panik ergriff mich wieder. Erschüttert setzte ich mich auf eines der Laufbänder. Meine Knie wurden weich und meine Beine konnten mich nicht mehr tragen. Voller Sorge sah ich immer wieder auf die Uhr. Es war ein Uhr Morgens. Meine trockenen Augen brannten vor Erschöpfung. Konnte man in einem Traum müde sein? Ich wollte nichts lieber als schlafen. Bei diesem hellen, überfüllten Raum war dies nicht möglich.
In einem Traum schlafen. Es klang absurd.

,,Willst du?", piepste jemand.
Ich sah neben mich und entdeckte ein kleines Mädchen, das an ihrer Schokolade kaute. Sie hatte den Großteil ihres Gesichts damit versaut. Mit großen Augen hielt sie mir ein Stück hin. So ein süßes Kind hatte ich noch nie gesehen. Ihre dicken Wangen sahen zum Kneifen niedlich aus und diese winzige Stupsnase so bezaubernd.

Da fragte ich mich erneut, wie ich so detailliert von all diesen Personen träumen konnte.
Ich nahm die Schokolade an und bedankte mich mit einem Lächeln. Während ich auf der süßen Masse kaute, fiel mir ein, wie hungrig ich eigentlich war. Dieser Alptraum warf immer mehr Fragen auf. Meine letzte Theorie war es, dass ich durchgedreht war. Wahrscheinlich war ich bloß eine Wahnsinnige, die in einer Scheinwelt lebte, während sie eigentlich in einer Anstalt saß.

Meine armen Eltern. Der Gedanke, dass ich eine Verrückte war, schnürte mir die Kehle zu. Ich schluckte schwer die Schokolade herunter, da spürte ich auf einmal eine kleine, warme Hand auf meiner.
,,Keine Angst, bald dürfen wir gehen. Mama sagt, es dauert nicht mehr lange", nuschelte die Kleine.

Es beschämte mich, dass dieses Kleinkind mutiger war als ich. Vielleicht war sie auch nur Teil meiner Einbildung und mein Verstand versuchte gerade, mich selbst zu trösten. Diese abstrusen Theorien verdrehten mir den Kopf. Ich brauchte dringend Schlaf.

,,So, hört alle her! Die Gefahrensituation ist vorüber. Draußen ist es soweit wieder sicher. Jetzt stellt euch alle in einer Reihe auf und geht nacheinander raus! Kein Drängeln! Alle gehen geordnet hinaus", rief einer der Soldaten durch den ganzen, weiten Raum mit seiner markanten Stimme.

Das Mädchen hüpfte fröhlich vom Laufband und stellte sich neben ihre Mutter. Ich hatte Unordnung von den Menschen erwartet, doch sie befolgten die Ansage und gingen geordnet hinaus. Ihre Disziplin imponierte mir. Normalerweise hätte ich von Menschen nicht erwartet, dass sie so ruhig und gehorsam in einer Ausnahmesituation reagierten. Dies war auch nur ein Traum. Zu schön, um wahr zu sein.

Ich bestand darauf, als Letzte aus dem Raum zu gehen. Ich hatte nicht die Energie und nicht die Lust, mich in die Schlange zu stellen und zu warten, bis ich hinauskam. Ich würde abwarten, bis jeder draußen war und dann in Ruhe gehen. Wohin ich gehen sollte, war mir sowieso nicht klar.

Die Menschenmasse wurde angeleitet von lediglich zwei Soldaten, die sie alle nacheinander reibungslos nach draußen lotsten. Ich sah ihnen zu, wie sie hinfort strömten. Auf ihren Gesichtern war Freude und Erleichterung zu sehen. Es klang aber auch Besorgnis mit in ihren Zügen.

Wäre ich aufgewacht, hätte ich sie alle gemalt. Da lag das Problem. Ich wachte nicht auf. Der Lärm verblasste immer weiter und der Raum entleerte sich Stück für Stück. Je mehr Menschen hinausgingen, desto freier und entlasteter fühlte ich mich. Volle und enge Räume mochte ich nicht. Ich atmete mehrmals tief ein und aus, um meine Ruhe zu bewahren und nicht gleich in den Schlaf zu fallen. Ich durfte die Beherrschung nicht verlieren. Was würde wohl passieren, wenn ich in einem Traum einschlief? Der Gedanke daran beängstigte mich.

Antagona - LügentraumWhere stories live. Discover now