Das abgestorbene Viertel (Saylor)

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Unendlich. So wie das Universum unendlich war, kam mir auch diese Gasse unendlich lang vor. Ich ging seit einer guten Viertelstunde und betrachtete zerstörte Läden über zerstörte Läden. Keine einzige Person fasste Fuß in diese Gassen. Ich war allein, wie abgegrenzt von der Außenwelt. Es gab mehrere Abzweigungen, ich ging jedoch geradeaus weiter, um mich nicht zu verirren.

Mir war danach, zurückzugehen, doch irgendetwas hielt mich an diesem Ort fest. Ich bekam nicht genug davon, die verlassene Gegend zu erkunden. Dieses Viertel machte denselben Eindruck wie am ersten Tag, an dem ich in dieser Welt gelandet war. Die Ruhe war zurück. Die Ruhe, die ich gerade brauchte.

Nichts außer Schutt, Asche und Leere. Ein einsamer Stadtteil, indem nur noch Stille herrschte. Hier lagen die Hoffnungen, Errungenschaften und Mühen dieser Wesen vergraben. Alles zerfallen und nicht mehr zu retten wie in einer Grabstätte.

Mich faszinierte die Lebensweise dieser Wesen. Sie lebten so ähnlich wie wir. All diese Geschäfte erinnerten mich an meine Welt, obwohl sie skurrile Namen besaßen. Ich kam an vielen Läden vorbei, in denen Schaufensterpuppen umgefallen auf dem Boden lagen und zerrissene Kleidungsstücke an ihnen hingen. Ein Pullover unter ihnen hatte vier längliche Risse, als wäre eine Raubkatze mit ihren Krallen drüber gefahren.

An einem Juwelier kam ich ebenfalls vorbei. Der ganze Schmuck lag unberührt in den Tresen. Keiner hatte es herausgenommen, als sei der Schmuck verseucht und nicht mehr tastbar. Als hätte es all seinen Wert verloren und verkümmerte in diesem geistlosen Viertel.

In Bäckereien lag verfaultes Brot. Es hatte weißen, modrigen Schimmel an sich. Der Geruch zusammen mit dem Anblick bereitete mir Übelkeit.
Mehrmals musste ich über riesige Steinbrocken springen, die auf dem Boden verteilt lagen. Der Fakt, dass ich keine Schuhe trug, machte dies deutlich schwieriger, als es eigentlich war.

Je weiter ich ging, desto unreiner wurden die Wege und abgefallener die Gebäude. Was auch immer diesen Schaden angerichtet hatte, es musste monumental sein.
Als ich über einen weiteren großen Brocken von einem teils zerfallenen Gebäude sprang, entdeckte ich einen Uhrladen vor mir.
Darin lagen viele goldene und silberne Uhren. Mir fiel auf, dass sie glänzten und strahlten wie frisch poliert. Selbst die Scheiben, hinter denen sie lagen schimmerten makellos. Alles, was ich bisher erblickt hatte, war mit Staub und Dreck übersät gewesen. Diese Uhren sahen jedoch aus wie neu.

Mit meinen aufgeschürften Füßen schlurfte ich zu dem Laden. Das Schild davor hing halb herab und machte quietschende Geräusche, während es sich leicht vor und zurück bewegte. Ich stagnierte, als ich tatsächlich einen Mann in dem Laden sitzen sah. Seine Präsenz hat mich erschrocken, da ich nicht erwartet hätte, jemanden in solch einer Gegend anzutreffen.

Ich beruhigte mich, als ich ihn näher betrachtete. Es war ein kleiner Mann, der mit krummen Rücken auf einem Hocker saß. Er trug dunkle, verstaubte Kleidung und aufgerissene Schuhe, sodass seine Zehen herausguckten. Der Mann war in gesegnetem Alter und wirkte mindestens genauso herabgekommen wie diese Gebäude.

Seine Haut war blass, er selbst abgemagert und seine Hände zittrig vor Schwäche. Dennoch hielt er eine silberne Uhr in diesen von Altersflecken besäten Händen und polierte sie mit einem Tuch. Der Mann pflegte seine Uhren besser, als er sich selbst zu pflegen schien. Er behandelte sie, als wären sie mehr wert als sein Leben. So vorsichtig und konzentriert putzte er jeden Winkel und kniff seine Augen dabei mehrmals zusammen.
Als es mir zu unheimlich wurde und ich nicht länger diesen geistesabwesenden Opa beobachten wollte, drehte ich um. Gerade als ich kehrt machen wollte und entschieden hatte, endlich zurückzulaufen, ertönte eine heisere Stimme.

,,Was tut eine junge Frau allein in diesem Viertel? In C3 ist mir seit Jahren keine andere Seele mehr begegnet."
Sprachlos sah ich zu dem Alten. Er konzentrierte sich immer noch auf seine Uhr. Wie hatte er mich gesehen? Er hob nun den Kopf an und sah in meine Richtung, sodass ich seine massenhaften Falten erkennen konnte. Als ich einige Schritte näher kam, bemerkte ich, dass es zum Großteil Narben waren, die sein Gesicht zierten.
,,Netter Aufzug", lachte der Alte.

Antagona - LügentraumWhere stories live. Discover now