Geblendet von Gold (Saylor)

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Die Fahrt mit dem ungewissen Ziel dauerte ewig. Es vergingen Stunden und die Kutsche wollte nicht anhalten. Ich konnte nur schätzen, wie viel Zeit vergangen war. Es kamen mir wie lange, qualvolle Stunden des Schweigens vor. Den Großteil dieser Stunden sind wir an Hochhäusern und Industrien vorbeigefahren. Alles derselbe Anblick.
Wir fuhren und fuhren und fuhren und die Gebäude wollten nicht enden. Die Massen hörten nicht auf. Fuhren wir weiter in die Stadt hinein? Ins Zentrum? Oder fuhren wir hinaus? Ich konnte es nicht beurteilen.

Je weiter wir kamen, desto mehr Personen in Alltagskleidung sah ich. Keine Arbeiter. Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche, die durch die Läden streiften, und Senioren, die langsam ihres Weges schlenderten. Bei den Senioren musste ich wegsehen. Sie erinnerten mich an den lieblichen, alten Mann im Laden. Wurde seine Leiche gefunden? Würde sie je gefunden werden?

Aus dem Fenster der Kutsche sah ich hinauf in den Himmel. Der rote Mond war zu sehen, von den beiden anderen keine Spur. Er glänzte kupferrot und erinnerte mich an den Blutmond auf der Erde. Als ich zum ersten Mal einen Blutmond gesehen hatte, war meine kleine Schwester bei mir gewesen. Wir haben zusammen hinaufgesehen und sie hat sich unaufhörliche Geschichten und Mythen über ihn ausgedacht, mit denen sie mir den Nerv geraubt hatte.

Nun saß sie alleine daheim und fragte sich, wo ich war. Doch ihr würde niemals in den Sinn kommen, dass ich in der Welt gelandet war, aus der ihre wirren Träume kamen. Wie ging es meiner Mutter wohl? Wie fühlte sie sich? Weinte sie gerade oder saß sie stumm da und dachte sich nichts dabei? Schwer zu beurteilen. Sie hatte mir gegenüber noch nie ihre Emotionen gezeigt. Es fiel mir schwer, sie mir dabei vorzustellen, wie sie weinte. So viel Vorstellungskraft besaß ich nicht.

Mein Blick glitt vom Mond ab und meine Aufmerksamkeit galt wieder meiner Umgebung. Es erstaunte mich, dass sich so plötzlich alles, was ich bisher von dieser Welt kannte, veränderte.

Die Sonne blendete mir durchs kleine Fenster direkt ins Gesicht. Ich verengte meine tränenden Augen.
Keine Hochhäuser mehr. Keine Schatten mehr, keine Kälte. Alles um mir herum wurde wärmer, greller, bunter. Als hätte man auf einem Foto den Filter von Schwarzweiß auf strahlend Warm gesetzt. Die gesamte Trübnis verflüchtigte sich und meine Augen erblickten zum ersten Mal grün. Hohes Gras, lauter Reihen an Bäumen mit Früchten, die ich nicht identifizieren konnte, und zwischen all dem einzelne, kleine Häuser in verschiedenen Farbtönen. Viele dieser Häuser gab es in warmen Brauntönen so wie die Stämme der Bäume um sie herum. Andere Häuser waren getaucht in rosa Töne, gelbliche Stiche oder sogar hellblau. Im Gegensatz zu dem Industriegebiet bot diese Gegend ein einziges Farbenspiel. Perfekt für die Leinwand. Nur schade, dass ich hier keine Leinwand besaß. Und meine Hände in Handschellen lagen, ohne mir erkenntlichen Grund.

Die Aussicht auf das feine Viertel und die sachten Farben beruhigte mich. Sie lenkten mich von dem Vorfall im Uhrladen ab und halfen mir, herunterzufahren. Fragte sich nur, wieso ich hierher gebracht wurde.
Dieser Ort war viel zu schön, um aus meinem Verstand entsprungen zu sein. Mindestens jetzt musste ich mir sicher sein, dass diese Welt echt war. Der Ort war zudem viel zu friedlich, um eine Gefangene herzubringen. Irgendetwas hatten die Soldaten vor, von dem ich nichts wusste. Ich schloss es aus, dass sie glaubten, ich wäre von dem Biest besessen. Ansonsten hätten sie mich auf den Parasiten getestet. Verwunderlich, dass man den Parasiten am Blut erkennen konnte. Aber was wusste ich schon über diese Welt? Während sie auf der einen Seite das pure Chaos war, war sie auf der anderen Seite das pure Paradies.
Während sie so voller Magie war, war sie auf der anderen Seite modernisiert. Es wollte nicht zusammenpassen.

Ungefähr eine halbe Stunde lang fuhren wir durch die farbenfrohe Gegend. Innerhalb der Häuser erblickte ich hin und wieder mehrere Köpfe. Manche der Wesen machten es sich draußen in ihren Gärten gemütlich und Kinder spielten auf den Straßen. Soldaten gab es kaum, die wie im Industriegebiet an jeder Ecke und Nische standen und die Menge beobachteten.

Antagona - LügentraumWhere stories live. Discover now