Kaffee

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Kapitel 1: Kaffee

„Schwarz, mit viel Zucker, bitte.“ Reid verschränkte die Arme vor der Brust und warte darauf, dass die Frau hinter dem Tresen seinen Kaffee brachte.
Es war einer dieser Tage, von denen man glaubte, sie würden in einem Desaster enden. Grauer Regen prasselte gegen die Fensterfront des Cafés, verbarg die Welt vor seinem beobachtenden Blick. Auf den Gehwegen hatten sich breite Pfützen gebildet. Wahrscheinlich würde er vollkommen durchnässt im Büro ankommen. Durchnässt, verfroren, schlecht gelaunt, müde

Er hatte kaum geschlafen in der vergangenen Nacht. Gequält von Albträumen war er schweißgebadet aufgewacht, hatte erneut den Schmerz gefühlt, als das Holzscheit gegen seine Fußsohle geschlagen worden war, ebenso wie die Angst. Selbst nach so langer Zeit noch... er hatte nicht mehr schlafen können, etwas, das schon seit langem nicht mehr geschehen war. Er hatte versucht, sich durch Lesen abzulenken. Vergeblich. Mit starrem Blick hatte er die Zimmerdecke angestarrt und darauf gewartet, dass es Zeit wurde, aufzustehen. Um halb sechs hatte ihn sein Wecker schließlich erlöst. Oder so etwas Ähnliches.
Nun wartete er darauf, dass seine Müdigkeit wich, obwohl er wusste, dass dies ohne die Hilfe von Koffein wohl kaum geschehen würde. Sein Zentralnervensystem brauchte einen Anschub.

**


„Hören Sie, ich kenne Sie nicht mal!“
Es war ein junger Bursche, kaum zwanzig. Unschuldige braune Augen blickten in ihre kalten, stahlgrauen Augen, ohne zu verstehen, ohne zu begreifen.
Sie begriffen nie.
Niemals.

„Was seh ich? Welch ein himmlich Bild
Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!“

„Was für ein Spiegel? Hören Sie, ich werde jetzt gehen und...“
Er verstand immer noch nicht. Sie packte ihn am Arm, setzte im gleichen Augenblick die Spritze an. Und dann verstand er. Langsam. Angst spiegelte sich in seinen Augen.

Die gleiche Angst, die sie alle hatten.
Die gleiche Angst, die auch sie gehabt hatte. Damals.

**


„So, viel Zucker, keine Milch. Wie immer“, lächelte ihn die Frau an, bevor sie sich dann dem nächsten Kunden widmete, der gerade durch die Tür gekommen war. Reid hatte es am obligatorischen Klingeln gehört, der ganzen Szene jedoch keine Beachtung geschenkt. Zu sehr war er in seine eigenen Gedanken vertieft.

„Morgen!“, erklang eine weibliche Stimme neben ihm. „Schwarz, mit Haselnusssirub und zwei Stück Zucker. Kannst du mir den machen, Lu?“
Reid drehte sich zu der Frau um und erstarrte.
Sie war nur einen halben Kopf kleiner als er und blonde Locken fielen ihr bis zur Taille. Um die schmalen Handgelenke schlangen sich sechs silberne Armreifen, an den Ohren baumelten lange Ohrringe. Eine Patchworktasche und ein riesiger Ordner, sowie schwarze Aladdinhosen rundeten das Bild einer Studentin oder Künstlerin ab. Seine geübten Augen tippen eher auf Studentin für Musik oder Kunst, vielleicht auch Sprachen.
„Zwei Stück Zucker? War's so schlimm gestern Abend?“, erkundigte sich die Frau, die die Blondine Lu genannt hatte.
„Schlimmer“, entgegnete die Blonde. „Ich versteh' die Typen nicht! Wenn sie sich kein bisschen für Opern interessieren, dann sollen sie auch nicht zusagen und dann pampig werden, wenn ich ihrem Gerede keine Beachtung schenke, wenn die Königin der Nacht gerade Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen singt! Gott!“
„Ich hab zwar keine Ahnung, von was du redest, aber willst du vielleicht noch 'nen Brownie?“
Helles Lachen erklang. „Du bist unmöglich, aber trotzdem mein Engel, Lu.“ Die Studentin stützte ihre Ellenbogen auf den Tresen und verbarg ihren Kopf kurz in den Händen.

**


„Wie ist’s? Will’s fördern? Will’s bald gehn?
Ah bravo! Find’ ich Euch in Feuer?
In kurzer Zeit ist Gretchen Euer.“

„Was tun Sie... was?“
Er fiel an der Wand entlang.

„Und küssen ihn, so wie ich wollt
An seinen Küssen vergehen!
Du hättest sie nicht dazu zwingen sollen, Bastard.
Hier ist ein Fläschchen! Drei Tropfen nur
In ihren Trank umhüllen
Mit tiefem Schlaf gefällig die Natur!“

Er schloss die Augen, doch einige letzte Worte krochen noch über seine Lippen, zähflüssig, so als wollten sie nicht wirklich heraus, als wolle er der Welt selbst jetzt noch nicht eingestehen, was er getan hatte.
Zu was er sie gezwungen hatte.
Was er zerstört hatte.

„Das Kind... Sue's Kind... sie wollte... das.. doch... auch.“

„Sie wollen es nie. Aber ich habe sie gerecht. Nun bezahle deinen Preis.“

Sie wandte sich ab, nahm ihre Sachen auf und blickte sich ein letztes Mal um. Niemand hatte sie beobachtet, so wie es schon immer gewesen war. Niemand beobachtete einen. Niemals.

Einen letzten Dienst musste sie noch tun, bevor sie von hier fliehen konnte. Vor sich selbst fliehen konnte. Während die altbekannte Übelkeit in ihr aufstieg, steckte sie dem Jungen einen Zettel in die Hand und schloss seine Augen.

Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

**


Reid wusste, dass sein Starren und Lauschen allmählich unhöflich wurde, dennoch schaffte er es nicht, den Blick abzuwenden. Zu gern hätte er sich auch Karten für Die Zauberflöte von Mozart gekauft, doch seine Erfahrung in den letzten Jahren hatte ihm gezeigt, dass es völlig sinnlos war, sich etwas vorzunehmen, wenn man quasi dauerhaft im Dienst war.
Mörder nahmen keine Rücksicht auf Theaterspielpläne.
Das ist nur der Stress, hörte er die kleine, vernünftige Stimme in seinem Kopf auf den Wunsch, die Frau anzusprechen, anzworten, deine Hormone sind aus dem Gleichgewicht geraten. Gleichzeitig mischte sich eine andere ein, die verräterisch nach Morgan klang: Sprich sie an! Los, sie ist dein Typ!
Er ignorierte beide Stimmen, wie so oft, obwohl es ein Thema war, bei der er hätte mitreden können. Hier ging es nicht um Facebook oder den neusten Kinofilm, sondern um Klassische Musik und Menschen, die diese Art von Kunst zu schätzen wissen. Doch er sprach sie nicht an. Natürlich nicht.
Er lächelte den beiden Frauen lediglich kurz zu, bevor er das Café verließ. Wahrscheinlich würde er auch noch seinen Zug verpassen und zu spät kommen. Ein wahrlich perfekter Morgen!

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Story: beendet
Kapitelupdate: Wöchtentlich

Kommentare sind definitiv erwünscht, auch wenn die Geschichte abgeschlossen ist!

Gretchentragödie [Eine Criminal Minds Fanfiction]Where stories live. Discover now