Profile

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Kapitel 6: Profile


Es gab nichts, was den Verkehr so aufhielt, wie ein Unfall während des Berufsverkehrs. JJ und Hotch saßen seit über einer Stunde im Wagen und der ältere Agent wurde allmählich ungeduldig. Seine Finger tippten auf das Lenkrad. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei.

„Hotch, könntest du das lassen?", bat JJ, die bislang die verschwommene Welt außerhalb des Wagens gemustert hatte. Ihre Gedanken waren immer wieder abgeschweift. Erinnerungen an die Zeit mit Gideon, ähnliche Fälle, aber auch an das neue Schaumbad, das am Rand ihrer Badewanne stand und darauf wartete, ausprobiert zu werden. Einfach im heißen Wasser zu liegen, eine gute CD zu hören und die Welt zu vergessen... nichts schien weiter entfernt zu sein.

Als Hotch schwieg, seufzte die junge Frau. „Vielleicht sollten wir das Notebook zuerst zu Garcia bringen, bevor wir zu Tim Brewsters Wohnheim fahren. Die Abzweigung nach Quantico ist dort drüben. Ich werde dort sofort mit dem Verwalter reden und auch einige Informationen über sein Studium einholen... alles wird sinnvoller sein als hier im Stau zu stehen."

Ihre Laune war auf einen ungewohnten Tiefpunkt gesunken, ohne dass sie es hätte beeinflussen können. Sie hatten so wenig Informationen wie nur selten, obwohl sich Garcia die größte Mühe gab, alles über die Opfer herauszufinden, und ihnen etliche Details auch schon zu gesendet hatte. Natürlich bedeutete das eigentlich, dass sie sich selbst ein Bild der Jungen machen sollten, aber es widerstrebte ihr, sich weiterhin auf der Straße herumzutreiben.

„Mhm...", brummte Hotch schließlich und drückte den Blinker herunter. „Wir haben zu viel Zeit bei Charlie Nells Familie verbracht. Dann dieser Stau... wahrscheinlich hast du Recht."

JJ hob eine Augenbraue. Die ganze Zeit über hatte ihr Boss so gewirkt, als gebe es überhaupt keine Alternative für ihn, als die Bekannten der Opfer zu befragen. Doch anscheinend hatte er es sich anders überlegt. Eine Tatsache, die sie überraschte.

„Wie geht es Jack?", fragte sie aus einer plötzlichen Laune heraus.

„Oh, gut. Er hat vor einigen Wochen zum ersten Mal Dad gesagt." Es war ihm unmöglich den Stolz aus seiner Stimme zu verbannen und ein ungewohntes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ich bin so stolz auf ihn."

Sie musste sein Lächeln erwidern. „Das ist schön. Ich freue mich für dich."

Und damit schwiegen sie wieder. Irgendwie schien der erfahrene Agent mit den Gedanken sehr weit weg zu sein. JJ hofft nur, dass er an etwas Schönes dachte und nicht nur an die Morde.

**


Laut hallten die Schlagakkorde des Klaviers durch das leere Probenzimmer, ebenso aggressiv wie der Rest des Liedes, das Juliana spielte.

Eigentlich hätte sie jetzt entspannt in einer Vorlesung über Semantik sitzen sollen, doch der Professor war nicht erschienen, sodass sie durch ein Übermaß an Freizeit in einen der vielen Proberäume der musikalischen Fakultät geflüchtet war und ihre Gedanken schweifen ließ, während sie das einzige Poplied spielte, das sie wirklich beherrschte: I don't like Mondays.

Juliana musste lediglich die Noten spielen, um den Klang des Liedes zu hören, mit all dem Gesang und auch den Streichern. Es klärte ihre Gedanken. Das war etwas, das nur die Musik konnte.

Als sie vier Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter ihren ersten und einzigen großen Fehler gemacht, wie ihr Vater es bei ihrem Abschluss ausgedrückt hatte: Sie hatte ihr eine Blockflöte geschenkt. Es war ein Desaster gewesen. Kein gerader Ton, kein hübsches Lied, aber dafür die Fähigkeit, Noten zu lesen, bevor sie Buchstaben auseinanderhalten konnte. Kaum, dass sie die erste Klasse abgeschlossen hatte, hatten sich ihre Eltern entschlossen, die Blockflöte gegen eine Querflöte zu tauschen. Das war das Steinchen gewesen, das die Lawine ins Rollen gebracht hatte.

Flötenunterricht, Schulorchester, Marching Band, Studium. Es schien die logische Konsequenz gewesen zu sein. Und sie bereute bis zu diesem Zeitpunkt keine einzige Sekunde lang, dass sie sich für Musik eingeschrieben hatte.

Juliana ließ die letzten Akkorde ausklingen, bevor sie sich etwas zurücklehnte und die Augen schloss. Das Klavierspielen war ein Mitbringsel des Studiums gewesen, doch es fiel ihr ungewohnt schwer, das Instrument wirklich zu beherrschen, was auch daran liegen könnte, dass sie nur an der Uni üben konnte. In ihrer Wohnung war nicht einmal genug Platz für ein E-Piano. Doch an manchen Tagen konnte sie sich nur so entspannen.

**


Außerhalb des Gebäudes grollte der Donner und Reid zuckte unwillkürlich zusammen. Sie saßen erneut um den runden Tisch im Konferenzraum, doch diesmal war die Stimmung abgespannt und vielleicht sogar gereizt, wenn man sich Hotch's Miene ansah. Seit er und JJ wieder im Büro waren, bildeten die Sorgenfalten tiefe Schluchten auf seiner Stirn, die das jüngste Teammitglied nervös machten.

„Wie weit haben wir unser Profil?", fragte ihr Boss, unterstützt von einem Sturzregen, der für wenige Sekunden jedes Geräusch überdeckte.

Reid blickte in die langen Schlieren des Regens an der Fensterscheibe. Er hatte den ganzen Faust gelesen und eine Interpretation zu Mephisto, von dem das bei den Leichen gefundene Zitat stammte. Umsonst!

Nichts wies darauf hin, dass sich eine Mörderin, welche sich mit Mephisto identifizierte, willkürlich Männer und Jungen herausgriff und diese tötete. Er hatte keine Ahnung, warum sie das tat. Und das machte ihn wahnsinnig.

„Sie ist hochgradig organisiert", begann Morgan und verschaffte ihm so noch eine kurze Galgenfrist. „Die Gassen liegen auf der Rückseite von Clubs und Diskotheken, die ich mir heute Abend in cognito ansehen werde... Mann kann aber auf keinen Fall davon ausgehen, dass sie die Tatorte zufällig auswählt."

„Es sind saubere, uneinsehbare Gassen ohne Überwachungskameras", fuhr Prentiss fort. „Vermutlich hat sie Probleme damit, die Kontrolle zu verlieren. Darauf würde auch die Tatsache hinweisen, dass wir keinerlei Spuren von ihr finden."

„Wir glauben auch, dass sie ihre Opfer zuerst beobachtet und so die nötigen Informationen zusammenträgt", ergänzte Morgan. Zu ihrem MO gehört auch, dass sie die Opfer aus den Clubs lockt, wir vermuten durch sexuelle Reize."

„Also eine Serienmöderin à la Aileen Wuornos", warf Reid ein.

„Genau. Anschließend tötet sie die Männer durch Gift, schließt ihre Augen und gibt ihnen die Botschaft. Dann verschwindet sie spurlos."

„Okay", murmelte Hotch, den Blick auf Reid heftend. „Was wissen wir über die Botschaft?"

**


Julianas Gedanken glitten zu der Begegnung in der Buchhandlung. Sie wusste nicht, was sie von dem jungen Mann halten sollte. Wenn sie sich nicht völlig irrte, war sie ihm bereits im Café begegnet, doch da hatte sie ihn nur unmerklich wahrgenommen. Er war gutaussehend, aber nicht auf die klassische Weise von Hochglanzmagazinmännern, sondern auf eine stille, kluge Art. Und er war anders.

An der Georgetown liefen zwar viele sonderliche Gestalten herum, aber Juliana war noch nie jemandem begegnet, der so bunt angezogen und Agent einer Bundesbehörde war. Nun gut, sie kannte zum einen kaum Leute in D.C. — von Lu, Andy und ihrer langjährigen Freundin Kate einmal abgesehen — und zum anderen kannte sie erst recht keine Staatsdiener...

Warum hatte sie ihn einfach so stehen lassen, ohne ihm ihre Nummer oder wenigstens ihren Namen zu geben?! Selbst, wenn er sich nicht bei ihr gemeldet hätte... alles wäre besser gewesen als dieses Faustzitat. Wahrscheinlich hielt er sie für einen vollkommenen Trottel.

Wer kannte schon Faust in Amerika?


Gretchentragödie [Eine Criminal Minds Fanfiction]Where stories live. Discover now