Gedanken

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Kapitel 5: Gedanken


Charlie Nells Zimmer war ein geräumiges, helles Zimmer mit hellblauen Wänden, die jedoch beinahe gänzlich unter Landkarten, Postern und gerahmten Bildern verschwanden. Kaum, dass Hotch das Zimmer betreten hatte, nahm er sich vor, Jacks Raum ebenso einzurichten, wenn sein Sohn in Charlies Alter kam.

Ein breites Bett dominierte die Wand gegenüber der Fenster, vor denen ein großer Schreibtisch stand. Ein gefülltes Bücherregal beherbergte einen kleinen Fernseher und einen großen Pokal. Ein geöffneter Laptop stand am Fußende des Bettes.

„Ich konnte noch keine seiner Sachen anfassen", murmelte Mrs Nell, die im Türrahmen stehen geblieben war. „Mein Mann konnte das Zimmer nicht mal betreten. Es ist..."

JJ legte der Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie Ihnen zu Mute ist, doch ich verspreche Ihnen, wir werden alles tun, um den Mörder Ihres Sohnes zu finden. Wir werden seinen Computer mitnehmen und uns noch kurz hier umsehen."

Sie nickte und die ersten Tränen verwischten ihr Makeup, bevor sie die Agents allein ließ.

„Das muss seine Freundin sein", sagte JJ und deutete auf ein gerahmtes Bild auf dem Regal. Es zeigte ein Mädchen mit blonden, kurzen Haaren und einem blauen Kleid, das von Charlie im Arm gehalten wurde. Beide trugen Abendkleidung „Das Zimmer spiegelt nur das wider, was wir auch vorher schon gewusst haben: er war ein Junge, der praktisch alles hatte. Kein Hinweis auf eine Rebellion, kein Hinweis auf dunkle Geheimnisse."

„Nein." Hotch betrachtete die Bilder und Poster. „Vielleicht können wir etwas von seiner Freundin erfahren, aber ich würde mich vorher auf Tim Brewster konzentrieren."

**


Morgan ließ sich erschöpft an seinen Schreibtisch fallen. Die anderen beiden Tatorte waren dem ersten zum Verwechseln ähnlich — saubere, schmale Gassen auf der Rückseite von Bars oder Diskotheken ohne Überwachungskameras und nicht von der Straße aus einzusehen. Die Leichen waren am Ausgang der Gasse gefunden worden, was darauf schließen ließ, dass sie nur wenige Minuten gelebt hatten, nachdem das Gift in ihre Körper eingedrungen war.

Wahrscheinlich war auch das bereits ein Hinweis. SaubereGassen,schnellwirkendesGift,geschlosseneAugen...

Er ließ seine Gedanken einen Moment lang schweifen, versuchte seine Erfahrungen als Cop und Profiler in einander fließen zu lassen, bis sie das gewünschte Bild ergaben.

Die Mörderin schien die Opfer zwar töten, jedoch nicht quälen zu wollen. Alles sprach gegen sadistische Motive und für eine Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte. Eine scheinbar ungeliebte Aufgabe.

Vielleicht eine psychische Krankheit?

Wahnvorstellungen?


Grade, als er sich noch etwas mehr in die Psyche des Täters vertiefen wollte, stürmte Reid an ihm vorbei und hinterließ eine tropfende Spur auf dem Teppichboden. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte strickt gerade aus, ohne auch nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit für seine Umgebung zu verwenden.

So lange hatte er den Kleinen doch gar nicht allein gelassen, dass irgendetwas passiert sein konnte... oder doch?

Unruhe nistete sich in ihm ein, als er aufstand und dem jüngsten Teammitglied folgte.


Manchmal fragte er sich, ob es damals klug gewesen war, Reid in das Team zu holen. Natürlich, er hatte sämtliche Prüfungen bestanden, obwohl ihm das Schießen Probleme machte und seine Koordinationsgabe des Öfteren zu wünschen übrig ließ, doch war er allein wegen seines unglaublichen Wissensschatzes ein Gewinn für das Team.

Wenn er nur nicht so verflucht jung wäre.

Morgan wusste aus eigener Erfahrung, dass Jugend nichts Schlechtes war und man sie nie unterschätzen sollte. Kinder konnten stärker sein als Erwachsene. Und Reid war kein Kind mehr. Das hatte er ihnen spätestens während seiner Entführung bewiesen...


Aber dennoch war es schwierig mit ihm. Er war zu schnell erwachsen geworden, war immer nur in Gesellschaft von Älteren gewesen. Ob er früher wirkliche Freunde gehabt hatte, wusste er nicht einmal. Reid war zu verschlossen. Es war nicht gut, wenn man alles nur mit sich selbst ausmachte. Und, obwohl er wusste, warum sein junger Kollege und Freund das tat, hatte er immer wieder das Bedürfnis, sich einzumischen.


„Heute ist nicht dein Tag, oder?" Morgan war Reid bis zur Toilette gefolgt, wo dieser versuchte, sich die Haare einigermaßen trocken zu reiben. In dem fensterlosen Raum konnte man den Regen überdeutlich hören. Er war stärker geworden und wahrscheinlich würde es auch ein Gewitter geben. Ein Glück, dass er und Prentiss von den Tatorten schon zurück waren.

„Ich will nicht drüber reden", antwortete das Genie leise und von ihm abgewandt.

Morgan seufzte innerlich. Das war so typisch! Wann verstand er endlich, dass es keine Schwäche war, sich jemandem anzuvertrauen? Gut,werdeichmichebendarananpassen, beschloss er und änderte seine Taktik: „Hast du etwas zu dem Zitat herausgefunden?"

„Ja." Es schien genau die falsche Frage gewesen zu sein.

„Und...?"

Der Angesprochene seufzte, spritzte sich frisches Wasser ins Gesicht, bevor er seinen Blick für wenige Sekunden fixierte. „Es ist von Johann Wolfgang Goethe, einem deutschen Dichter. Manche sagen auch, dass er der deutsche Autor ist. Das Drama heißt FaustDerTragödieErsterTeilund ist in Deutschland sehr bekannt. Ich habe eine Ausgabe gekauft und werde sie jetzt lesen, wenn du mich also bitte durchlassen könntest."

Reid ergriff erneut die Flucht, die Hand, die den Träger seiner Tasche hielt, zur Faust geballt, sodass seine Knöchel weiß hervortraten.

Der Dunkelhäutige schüttelte traurig den Kopf. Wenn er nur wüsste, was mit dem Kleinen los war...

**


Reid hätte seinen Kopf gegen die Tischplatte schlagen können und selbst dann wäre das Bild der Frau kaum aus seinen Gedanken verschwunden.

Warum beunruhigte es ihn, dass sie sich mit diesem Zitat verabschiedet hatte? Es war ungewöhnlich, aber es war die Art von Ungewöhnlich, die ihn nicht derartig nervös machen sollte.

Sie waren in der Abteilung gewesen, in der es auch fremdsprachige Literatur gab. Vielleicht war sie Deutsche oder einfach nur — wie er oder seine Mutter — an europäischen Büchern interessiert. Vielleicht studierte sie etwas in der Richtung. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur etwas gelesen und sich einen Satz daraus gemerkt. Herr Gott!

Es kann nur daran liegen, dass du nicht ausgeschlafen bist und dieses Drama automatisch in Verbindung mit Morden bringst, weil eine Stelle daraus bei drei Leichen aufgetaucht ist, versuchte er, sein gedankliches Chaos zu erklären, Du bist überspannt und nervös. Atme tief durch und lies das Drama.


Reid schlug das dünne Buch auf und begann mit dem Vorspiel auf dem Theater. Es dauerte nicht lange und seine Gedanken beruhigten sich, doch unterschwellig haftete das Bild der Frau noch immer in seinen Gedanken.

Gretchentragödie [Eine Criminal Minds Fanfiction]Where stories live. Discover now