I.

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Jo

Meine Beine baumeln im Leeren, im Nichts. Nur schwarze Nacht unter mir. Lebendes Treiben. Autos. Lärm. Tatütata. Tatütata. Irgendwo stirbt gerade jemand.

Ich stelle mir oft vor, wie zu jeder Sekunde irgendwo auf der Welt ein Leben zu Ende geht. Das Sterben und der Tod sind demnach schon immer ein Teil dieser Welt gewesen. An manchen Tagen wird durch diesen Gedanken diese Welt erst erträglich. An anderen nicht.

Ich zünde mir eine Kippe an, stoße den Rauch in Nacht. Er wird davongetragen. Ich habe keine Ahnung, was mit all dem Rauch passiert, den ich in meinem kurzen Leben schon in die Luft gequalmt habe. Sicherlich wüsste ich das, wenn ich zur Schule gehen würde. Aber ich denke, dass der Rauch einfach verschwindet. Genauso, wie ich mir wünsche, einfach zu verschwinden.

Immer noch sitze ich auf der Brücke und lasse mich von dem Dunst der Zivilisation berieseln. Mensch, ist das zum Kotzen. Ich sollte mir einen Finger in den Hals stecken und runterkotzen, aber vielleicht würde ich meine Doc's treffen. Vielleicht behalte ich die Tacos auch lieber in meinem Magen, heute fühle ich mich wohl. Es ist so schön dreckig in mir, so schön tot alles, so schön besudelt. An meinen Fingern klebt Blut, als ich mir die Kippe von den Lippen nehme und wieder dabei zusehe, dass es theoretisch leicht sein kann, zu verschwinden.

Theoretisch ist alles ziemlich leicht. Theoretisch gehe ich jeden Samstag und jeden Donnerstag zur Therapie und fasse meine Gefühle in Worte, die für den seltsamen Mann mit kratzendem Rollkragenpullover verständlich sind. Theoretisch geht es mir danach besser, theoretisch kriege ich mein Leben wieder in den Griff, theoretisch fühle ich mich danach weniger schuldig.

Hah.

Ist das nicht witzig, wie ich durch die Theorie falle, wie bei der theoretischen Fahrschulprüfung? Ja, superwitzig. Aber was, wenn die Theorie, die das Gericht für mein Leben vorsieht, eine falsche ist?

Ich glaube, dass das so ist. Es gibt keine Minderung meiner Schuld, keine Veränderungen an ihr.

Die Schuld ist eine Tatsache, kein Zustand. Zustände wandeln sich, verändern sich, durchlaufen Prozesse. Doch die Schuld in mir ist beständig, und nachträglich ist nicht mehr auf sie einzuwirken. Ich kriege auch nicht mit, dass sich meine Gefühle bezüglich der Schuld verändern würden. Zwar habe ich Berichte über andere Schuldige gelesen, die meinen, einen Weg gefunden zu haben, wieder in den Spiegel blicken zu können. Doch die lügen alle, das weiß ich. Das Leben wird nämlich nicht leichter. Es geht nur noch bergab.

Ich hole den Flachmann aus der Innentasche meiner Jeansjacke und schraube ihn auf. Die Schlucke, die ich tief einatme, brennen mir schön schmerzvoll im Rachen. So muss das sein, so fühlt sich Gerechtigkeit an. In dem Moment, als ich das denke, sehe ich alles plötzlich wieder vor mir. Das nennst du gerecht? Und wieder ist da diese Melodie, die aus dem verdammten Radio geschallt ist, auch wenn wir längst in Scherben lagen. Dieses Lied verfolgt mich. Ich weiß nicht, wie es heißt. Doch wenn meine inneren Ohren es mal wieder abspielen, fühle ich, dass ich das Überbleibsel der Ungerechtigkeit bin.

Gerecht wäre, wenn du jetzt springst.

Spring, spring, spring doch! 

GUILTWhere stories live. Discover now