V.

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Jo

Es ist Mittwoch, aber was nützt es mir, das zu wissen. Wenn man nicht mehr zur Schule geht und nicht mal arbeitet, ergeben Wochentage wenig Sinn. Jeder Tag fühlt sich gleich leer und scheiße an. Die Sekunden verschwinden durch meinen Körper und in ihm fühlen sie sich wie eine Strafe an. Die meisten Menschen beschweren sich, weil sie zu wenig Zeit haben. Ich hingegen habe zu viel Zeit. Ich bin noch so jung und habe so ein altes Gesicht.

Ich habe das Gesicht einer Verbrecherin, weil ich nichts anderes bin. Wenn ich so durch die Stadt laufe, denke ich immer, ich werde gleich erkannt. Dass sie Tomaten nach mir werfen oder so. Ich bin eine Schande. Doch niemand erkennt mich, wie immer.

Im Edeka versuche ich, was zu stehlen, aber am Ende lasse ich's doch. Ist besser so. Wenn ich erwischt werden sollte, will ich nicht erklären müssen, warum ich mir die Bierdose nicht kaufen wollte. Ich käme mir selbst vor wie eine Alkoholikerin, was vermutlich gar nicht so abwegig ist. Schließlich habe ich schon immer gut getrunken. Und am Ende ist es immer der Alkohol, mit dem das Unglück beginnt. Am Ende bin immer ich es. Wir beide. Der Alkohol und ich. Wir sollten keine Freunde sein, aber ich liebe ihn trotzdem.

Als ich aus dem Laden verschwinde, ohne was gekauft oder geklaut zu haben, gehe ich zum vereinbarten Treffpunkt. Es bringt ja doch nichts, am Ende nur in der Stadt herumzustreunen. Es ist der Plattenbau, in dem ich groß geworden bin. Ich öffne die Tür zum Treppenhaus, schreie seinen Namen rauf. „CHARLIE!" Aber da kommt keine Antwort. Nur ein Hund bellt. Früher haben hier keine Hunde gelebt. Nur schlechte Eltern mit schlechterzogenen Kindern, die am Ende Scheiße bauen.

Man muss für die Dachterrasse ganz hoch. Wenn man meint, die letzte Tür des Gebäudes gefunden zu haben, ist das immer noch nicht die letzte. So habe ich das gestern Charlie erklärt, als wir uns ganz klassisch, ohne Nummern auszutauschen, für ein Treffen verabredet haben. Ich habe kaum geschlafen, weil mir die Begegnung so schicksalhaft vorkam.

Ich hab's von Anfang an gespürt, glaub ich. Charlie und ich sind füreinander bestimmt. Kein Scheiß.

Atemlos stoße ich eine Tür nach der anderen auf. Nach ein paar Minuten erreiche ich ein weiteres Treppenhaus. Treppenhaus im Treppenhaus sozusagen. Vor den nächsten drei Türen kriege ich plötzlich Panik. Bis eben war mir alles total egal. Doch jetzt frage ich mich, wie ich eigentlich aussehe. Ich schaue halt nicht mehr richtig in den Spiegel, bevor ich das Haus verlasse. Ist schon schwierig, sich wieder an die Zivilisation zu gewöhnen, war es mir doch die letzten Monate schnuppe, dass um mich herum noch Menschen existieren. Vor der letzten Tür streiche ich mir übers Haar, rücke mir das Septum zurecht, atme tief durch und dann... stoße ich die Tür zur Dachterrasse auf.

Charlie liegt furchtlos und lebensmüde am Abgrund. Mir rutscht das Herz auf den Boden, es zerläuft vor mir wie Suppe, zerrinnt und versickert in den Ritzen der Steine zu meinen Füßen. Ich finde ihn irre, aber so jemanden wie ihn finde ich nie wieder. Ich passe gut auf ihn auf. Mein Herz fühlt sich so beschwingt an.

„Na?", sagt er nur und dreht den Kopf zu mir rüber. Die Brüstung besteht nur aus einer fünfzig Zentimeter hohen und vielleicht vierzig Zentimeter breiten Mauer. Dann geht's fünfzehn Meter weit runter. Wenigstens gibt es eine tolle Aussicht und wenn man springt, ist man mit guter Wahrscheinlichkeit sofort tot. Gestern auf der Brücke war ich mir nicht sicher, ob die Folter nicht länger dauern würde als einen knackigen, kurzen Sturz von etwas Hohem. „Na, ausgeschlafen?" Ich stapfe zu ihm hin und setze mich rittlings auf die Mauer in die Nähe seines Kopfes. Ohne Angst. Mein Herz macht zwar einen Satz, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Er schielt zu mir rauf. Bei Tageslicht lässt sich sein Gesicht besser betrachten als gestern im Dämmerlicht der Brücke. „Ja, aber du hast mir gefehlt. Jo", sagt er und grinst. Grübchen bilden sich auf seinen Wangen heraus. Er ist süß. Und seine Haut sieht von Nahem ganz sanft aus. Seine eisblauen Augen stechen interessant hervor. Und die kurzgeschorenen Haare stehen ihm gut. Ich rücke näher an ihn heran und fahre unverfroren am Knochen seiner Nase entlang. Seine Nase ist gerade, doch auf halber Strecke begegnet mir ein kleiner Höcker. „Was machst du da?", will er wissen. „Ich lese nur ein bisschen." Er lächelt zufrieden. Ich erkunde weiter sein Gesicht. Sein hübsches, junges, reines, unschuldiges Gesicht. Er ist wirklich ein Hübscher. Einer von den Guten.  

GUILTWhere stories live. Discover now