IV.

10 2 0
                                    

Charlie

„Tu's lieber nicht", sage ich atemlos. „Sonst wärst du 'ne Mörderin." Das Mädchen lacht höhnisch auf und dreht ihr Gesicht weg. Sie sieht schlimm aus, das kann ich nicht leugnen. Doch irgendwo unter den tiefen Augenringen, der bleichen Spinnenhaut und den wütenden, braunen Augen ist sie hübsch.

„Wer zum Teufel glaubst du eigentlich, wer du bist?", wirft sie mir an den Kopf. Ich werfe lachend den Kopf in den Nacken. Ob Martin mich sehen kann?

„Hast du 'ne Kippe für mich?"

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. Ich sehe sie einen Moment lang eindringlich an, bis sie nachgibt. „Okay. Aber ab Dreien rechne ich ab, verstanden?"

„Keine Sorge, ich bin Sportler, rauche nicht viel."

Sie setzt sich auf den Absatz und ich folge ihr. Ihre Beine lässt sie in die Tiefe baumeln, so mache ich das auch. „Sportler", spuckt sie das Wort auf die Autos unter uns. Es ist ganz schön laut hier.

„Ich war jedenfalls mal ein guter Schwimmer", füge ich hinzu. Bevor ich ein schlechter Mensch wurde, aber das verschweige ich ihr.

Sie holt eine Schachtel mit Zigaretten aus der Innentasche ihrer schwarzen Jeansjacke, die an manchen Stellen zerrissen und die von ein paar Aufnähern geziert ist. „Bist du politisch?", frage ich. Sie wirft mir einen bösen Blick zu und steckt sich im selben Moment die Kippe in den Mund. Bei diesem Anblick spüre ich ein Ziehen in meinem Bauch. Ich mag ihren Stil. Die pechschwarzen, vom Wind verwehten Haare, das Septum in ihrer Nase, das verschmierte Make-up, den schwarzen Nagellack. „Nö", sagt sie und das Feuerzeug klickt. „Ich hasse nur Nazis."

„Hätte ich nicht gedacht", sage ich ironisch und lese die Sprüche noch einmal. FCK NZS. ANTIFA. Kein Mensch ist illegal. „Und wie heißt du jetzt?" Sie drückt mir eine Zigarette in die Hand. Ich nehme ihr auch gleich das Feuerzeug ab und zünde mir mein neues Lebenselixier an. Das ist der erste Zug seit dem Knast. „Charlie", sage ich mit geschlossenen Augen und blase den Rauch aus mir raus. „Ich bin Jo." Jetzt sehe ich wieder zu ihr. Sie winkelt ein Bein an und zupft am Schnürsenkel ihres Stiefels.

Seltsame Situation.

Unter anderen Umständen würde ich mit ihr flirten. Aber so kurz vorm Tod fühlt es sich eher an, als würde ich mich an sie klammern wollen. Wir rauchen.

„Also eigentlich heiße ich Jolene. Warum hast du nicht gefragt, wie ich richtig heiße?", bricht sie das Schweigen. Ich lache auf. „Weiß nicht. Warum fragst du mich nicht, woher ich wirklich komme?" Sie legt die Stirn in Falten und deutet damit an, mich nicht verstanden zu haben. Dabei hat sie mich genau verstanden. „Charlie... kein deutscher Name... Charlie mit brauner Haut... keine deutschen Eltern", raune ich ihr zu. „Hallo, sehe ich aus wie eine scheiß Rassistin?" Ich lächle unwillkürlich. Nein, tut sie nicht. Sie sieht eher aus, wie ein Drogenjunkie, aber ich bezweifle, dass sie sich Heroinspritzen in den Arm jagt.

„Bestimmt nicht."

„Also, dann ist doch gut."

„Ja, Hauptsache keine Rassistin. Der Rest ist mir ganz egal." Was so klingt, als hätte ich sie als meine Freundin auserkoren.

„Wenigstens ein Sportler. Mensch hab' ich Glück heute."

Wir lachen und rauchen und sehen den Autos dabei zu, wie sie um ihr Leben fahren. Als gäbe es etwas zu gewinnen. Dabei ist diese Welt gar nicht echt.

„Was denkst du, wird aus uns was?", fragt sie und berührt den Schmerz an meinem Kopf. An ihrem Finger klebt auf einmal Blut. Dann steckt sie sich den Finger in den Mund, leckt mein Blut ab und grinst verrückt. „Ich habe keine Haare, falls dir das was ausmacht", erkläre ich und ziehe mir die Kapuze vom Kopf. Jedenfalls sind meine Haare drei Millimeter kurz. „Macht mir nichts aus. Aber ich verbringe meine Nächte auf solchen Brücken, musst du wissen."

„Wenigstens nicht unter den Brücken, oder?"

Jetzt lachen wir wieder.

Mein Herz fühlt sich so frei an. So frei und verrückt und lebensmüde. Ja, heute ist mir etwas Gutes passiert. Ich habe eine Freundin zum Sterben gefunden. Mit der sterbe ich ganz bestimmt. So wie die drauf ist. So wie ich drauf bin. Aber hey, wenigstens sind wir beide voll drauf! 

GUILTWhere stories live. Discover now