III.

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Jo

Mein Herzschlag vibriert durch meinen ganzen Körper. Es kribbelt und krabbelt und fuck, ich bin ja noch da. Die Adrenalinschläge peitschen mich nahezu besinnungslos, doch ich merke schon, dass ich heute nicht springe.

Es ist nicht so, dass ich es nicht könnte. Denn ich weiß, dass ich es kann. Trotzdem spüre ich, dass das heute nichts wird. Heute fühle ich mich wohl. Schön lebensmüde, um einbeinig auf der Brücke zu stehen und in Kauf zu nehmen, versehentlich runterzustürzen. Kann schon sein, dass das passiert. Aber ich springe heute nicht vorsätzlich. Heute mache ich nur Spaß.

Oh ja, ist das ein Spaß.

Sieben Meter unter mir zischen die Autos vorbei, schießen unter der Brücke hervor. Wie die das wohl fänden, wenn ich plötzlich auf ihrer Windschutzscheibe landen würde? Ich sollte das wohl ernst nehmen, doch irgendwie ist es... mir so egal.

AAAAAAAAAAARRRGGHHHHHHHH

Meine Schreie sind barbarisch, fassen genau das in Worte, was mir beim Therapeuten nie über die Lippen kommt. Wie gut, dass er mich so nicht sieht. Sonst würde er wissen, dass ich nicht therapierbar bin. Denn mein Schrei drückt genau das aus. Er sagt mir: Du wirst eh eines Tages von dieser Brücke springen.

Aber nicht heute.

Während ich mir meine Rotze wieder hochziehe, die Arme wie zum Fliegen bereit vom Körper ausstrecke und in den klaren Sternenhimmel blicke, dringt eine Stimme an mein Ohr. Die Stimme kommt zwar von unten, doch sie ist so furios und erbittert, dass ich meine, der Mensch würde mir gegenüberstehen. Könnte ein ähnlicher Zorn sein, der ihn umgibt. Doch eigentlich kenne ich diesen Typen überhaupt nicht.

„Verdammte Scheiße! Dein Leben kann gar nicht schlimmer als meins sein! Spring nicht, sonst komme ich hoch, und muss es dir nachmachen!"

Ach so. Der dumme Jogger, der vorhin aufs Maul geflogen ist. Dass der unglücklich ist, kann ich verstehen. Aber sieht nicht so aus, als würde der mir das Wasser tatsächlich reichen können. Ich bin für manche der schlimmste Mensch, der auf dieser Erde existiert. Ich übertreibe nicht. Ich erzähle nur von der Wahrheit. Es ist immerhin eine krasse Leistung, mit achtzehn Jahren schon Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. UND WAS HAST DU GETAN? will ich zum Jogger runterschreien, von dem ich nicht glauben kann, dass er ein schlimmer Mensch ist. Jedenfalls ist er nicht so schlimm wie ich.

Dass er die schmale Leiter entdeckt hat, über die man in den Himmel steigen kann, finde ich allerdings nicht gut. Zielstrebig ist er auf sie zugesteuert, jetzt sehe ich ihm dabei zu, wie er sie in einem Affenzahn erklimmt. Fuck, der kommt tatsächlich her! Nur bin ich mir angesichts seines schnellen, riskanten Tempos und der Furchtlosigkeit, mit der er nun auf der schmalen Stahlstange balanciert, um auf demselben Absatz zu landen, auf dem auch ich stehe, nicht sicher, ob er kommt, um mich runterzuholen – oder um selbst zu springen.

Mir schlägt das Herz bis zum Hals, als ich erkenne, dass er jung ist. Dass er hübsch ist. Die Lichter der Brücke strahlen ihn direkt an. Seine Haut ist karamellfarben, seine Augen sind eisig und blau, und seinen Kopf versteckt er unter der Kapuze seines bestimmt feuchten Pullovers. Über seine Schläfe läuft eine Blutschliere und irgendwie hat das echt etwas Gruseliges. Die Szene ist so eigenartig, dass ich kurz davor bin, in Gelächter auszubrechen. Doch spüre ich, dass dieser Junge keine Angst um mich hat. Und das ist es ja, was mich fasziniert. Er behandelt mich so, wie ich es verdiene, als er mich fragt: „So, hast du Lust, immer noch zu springen? Also ich würd's machen, jetzt wo ich schon mal oben bin." Er grinst und strahlt wie ein Wahnsinniger übers ganze Gesicht, springt leichtfüßig von der Stahlstange zu meinem Absatz. Mit weit aufgerissenen Augen stehe ich ihm nun gegenüber. Wir teilen uns ein paar wenige Quadratmeter auf dieser Fläche, vielleicht sollte ich Angst kriegen. Er riecht nach Schweiß und Tod, stelle ich fest. Er ist doch anders, als ich dachte. Und wenn er mir schlechttut, tut er mir genau richtig.

„Ich rauche hier oben nur ein bisschen. Aber wenn du springen willst, gebe ich dir gern einen kleinen Schubser. Denn ich bin hier lieber allein, verstehste?", sprudeln die Worte einfach aus mir heraus. 

GUILTWhere stories live. Discover now