VI.

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Charlie

„Wie würdest du gerne sterben?"

Meine Lieblingsfrage. Am liebsten würde ich jeden, den ich kennenlerne, diese Frage stellen. Doch Jo ist die Einzige, die mich für meine makabre Neugier nicht verurteilen würde. „Völlig klar, oder? Selbstverschuldet." Sie sieht auf einmal etwas traurig aus. Ich setze mich auf, damit ich ihr richtig ins Gesicht sehen kann. Auch für Selbstmordgefährdete gibt es schwere Momente, wenn sie über ihren Tod nachdenken. Vielleicht weil er, anders als bei Normalsterblichen, viel näher und präsenter ist. Weil das Bisschen Mensch in uns seinen Urinstinkt – am Leben bleiben – nicht ablegen kann. Sicherlich sind es auch unsere Erziehung, die Gesellschaft, Normen und Werte, die uns immer noch im Blut liegen. Als Kind habe ich geschmeckt, was Liebe heißt. Ich war buchstäblich ein unschuldiges Kind. Dass ich in den letzten Jahren zum Verräter, zum Häftling, zum Mörder, zum Aussätzigen, zum Schuldigen wurde, machen meine frühkindlichen Erfahrungen ja nicht wett.

„Ertrinken fände ich einen poetischen Tod." Jos Stimme summt im Wind. Mir fällt wieder ein, wie furchtbar kalt es hier oben ist. Ob sie nicht friert, wo sie doch wieder nur ihre Jeansjacke trägt? „So viele großartige Persönlichkeiten sind ertrunken. Virginia Woolf, Paul Celan, Heinrich von Kleist..." Ihre Augenlider sind gesenkt, sie lächelt friedvoll, ohne ihren Mund zu bewegen. „Aber vorm Ertrinken habe ich richtig Angst, glaube ich." Sie reißt ihre Augen auf und es flackert verletzlich in der braunen, warmen Farbe. „Hättest du Angst, da jetzt runterzuspringen?" Ich deute auf den Abgrund. Sofort schaudert es mich. Jeden Moment könnte es passieren. Mein Unterbewusstsein ergreift die Macht – und dann pjuuuuh. Runter mit mir. „Nein", antwortet sie fest entschlossen. Wie, um es mir zu beweisen, dreht sie sich um ein Viertel und lässt die Beine über die Brüstung hängen. Kurz schüttelt mich etwas kalt durch, weil es aussieht, als würde sie sich für den Absprung bereitmachen. Doch irgendwie weiß ich, dass sie da jetzt nicht runterspringt. „Hast du eigentlich noch Angst?", fragt sie mich und starrt in den Tod. „Nein, wobei, ich habe sie bestimmt noch und spüre sie nur nicht mehr. Hier ist das Adrenalin, der Todeskitzel, die mir sausend durch die Adern brausen. Entweder ich verwechsle das mit Vorfreude oder es bedeutet puren Wahnsinn. Vielleicht auch beides." Sie guckt mich etwas neidisch an. Dann springt sie plötzlich auf und landet auf ihren Füßen.

„Ich könnte mir schon vorstellen, heute zu verschwinden. Dann hätte ich die Sicherheit, dass du aufpasst, dass es auch wirklich gelingt." Ich spüre, wie in mir der Schweiß ausbricht. Sie ist ja doch etwas verrückter, als ich dachte. Aber sie macht bestimmt keinen Ernst. Bestimmt nicht. „Aber eigentlich habe ich mich noch nicht entschieden, wie genau... ich will auch nichts erzwingen. Heute Mittag bin ich immerhin aufgewacht und hab mich auf dich gefreut. Am Tag meines Todes will ich meine letzte Freude eigentlich nur einem widmen." Ihre Hände verschwinden in den Taschen ihrer Jacke. „Dem Sensenmann." Ich nicke und verstehe, dass heute nicht ihr Tag zum Sterben ist. Es fühlt sich schon ein bisschen so an, als würde mich das beruhigen. „Du hast dich also auf mich gefreut?" Ich grinse, als ich mir diesen Teil ihrer Worte ins Gedächtnis rufe. Es ist nicht zu leugnen, dass da etwas Prickelndes zwischen uns herrscht. Eine aufgeheizte Stimmung und ich frage mich, wie sich ihr Körper anfühlt. „Klappe, Charlie!", schnauzt sie mich an. Ich traue mich nicht, einfach ihre Taille zu ergreifen und sie an mich zu ziehen. Gut möglich und machbar wäre es zwar, aber vielleicht schreit sie. Vielleicht will sie das gar nicht.

„Trotzdem geht es mir ganz schön auf die Nerven, dass du ständig übers Springen nachdenkst. Wir reden über schier nichts anderes."

„Soso."

„Ja. So ist es. Aber nur blöd rumsitzen und darüber nachdenken ist langweilig."

Auf einmal steht sie auf der Brüstung. Ihre Beine zittern. Blöde Reaktion ihres Körpers. Sie atmet hektisch. Angst, Angst, Angst. Fasziniert sehe ich ihr dabei zu, wie sie versucht das Gleichgewicht zu halten. Dabei wollen die schweren Schichten der Depression gar nicht im Gleichgewicht liegen. Vielleicht ist sie auch bipolar oder schizophren, was weiß ich schon darüber.

Ich weiß nur eins: Wer sich die Schuld von der Haut ziehen will, muss mit ihr sterben. Ich stehe auch auf. Meine Beine zittern nur ganz leicht. Ich kontrolliere meine Atmung, während wir über die Stadt schauen. Es ist superkalt und superhoch und was, wenn wir beide jetzt springen? Doppelter Selbstmord!

„Also, wir balancieren jetzt. Wer's einmal ganz rum schafft, gewinnt das Spiel. Wen es runterhagelt, der gewinnt wirklich." 

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