VII.

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Jo

Schweigend balancieren wir zwischen Leben und Tod. Eine schöne Strecke, die mich gerechter maßen auf die Folter spannt. Wenn ich den Fuß hebe, bin ich etwas toter, als wenn ich ihn wieder auf den Stein setze. Charlie geht genau die gleiche Strecke, doch wir laufen entgegengesetzt. Wenn wir uns begegnen, weiß ich nicht, was passiert.

Könnte ich jetzt eine rauchen, würde ich's machen. Aber meine Kippen sind aufgebraucht und meine Finger so gefroren, dass ich sie kaum noch bewegen kann. Die bittere Kälte hat sich schon längst durch meine Knochen gezogen. Es zieht in meinem Körper, könnte ich sagen. Aber es zieht auch, wenn es Sommer ist und die warmen Strahlen der Sonne meine Haut küssen. Oder wenn ich mir den Ärmel hochziehe und das Feuerzeug an meine Haut setze und warte, bis der Schmerz meine Haut verbrennt. Hach, wäre ein warmes Flämmchen hier oben nicht schön? So als Krönung für den Stress, den ich eh gerade durchstehe. Einen Fuß vor den anderen. Mal will ich, dass das alles aufhört. Das Spiel und so. Charlie. Aber wenn meine Ohren die Melodie abspielen, will ich, dass es für immer aufhört. Für immer. Für immer. Für immer.

Es könnte meditativ sein, so eine Gehmeditation. Ich bin ja hochkonzentriert. Vielleicht ist aber sowieso alles so verspannt, dass ich gar nicht wahrnehme, wie verkrampft ich bin. Charlie, der Sportler, ist bestimmt lockerer als ich. Der geht die Strecke mit links. Ich sehe nicht nach ihm, sondern schaue nur selbst auf den schmalen Streifen, der mich am Leben erhält. Sehen, wie es ihn runterhagelt, will ich eigentlich nicht. Dann wäre ich vermutlich neidisch und sauer, dass er mich hier oben allein lässt. Entweder, ich sterbe zuerst, oder wir sterben gleichzeitig. Basta.

Leider falle ich nicht runter. Auf der Hälfte der Strecke begegnet mir Charlie. Wir nähern uns immer noch, selbst als wir praktisch voreinander stehen, aber halt in ganz kleinen Schritten. Um Zeit zu schinden. Wie gehen wir aneinander vorbei? Wer nimmt den riskanteren Weg am Nichts entlang, wer den sicheren an der Dachterrasse entlang? Ich frage mich das und halte automatisch an. Vielleicht will ich noch kurz vor ihm stehenbleiben und durchatmen, bevor wir uns gemeinsam für etwas entscheiden. Doch am Ende sieht es so aus, als würde ich zögern. Und Charlie reagiert einfach. Er entscheidet ohne mich. Fasst mich an meinen Schultern an, ich lasse es geschehen. Drückt sich mit Körperspannung an der riskanten Seite, am Nichts entlang, an meinem schlabbrigen, wackeligen, zittrigen Körper vorbei und irgendwie hasse ich mich jetzt noch mehr. Er ist ein Adonis, selbst im luftigen Tod. Ich stehe da wie eine Salzsäule. Und als er von mir ablässt, um die Strecke weiterzugehen, fühle ich mich gänzlich verlassen.

Auch wenn wir die Strecke beide schaffen, finde ich, dass er gewonnen hat. Stur gehe ich an ihm vorbei, weil ich vielleicht etwas sauer bin, während er schon freudestrahlend auf mich zusteuert. Perplex ruft er meinen Namen: „Jo?" Und dann hält er mich am Arm fest, wirbelt mich zu sich herum. Mir rutscht das Herz wieder in die Hose, angesichts der Tatsache, dass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennen. Er ist so echt und so perfekt und ich kann nicht glauben, dass ich ihn gefunden habe. „Was ist los? Wir haben doch beide das Spiel gewonnen", fängt er an. Ich unterbreche ihn sofort. „Nö, du hast geglänzt, Charlie. Geglänzt ohne Angst. Du spürst wirklich keine Angst, kann das sein?" Ich stoße einen empörten Laut aus. „Das stimmt nicht. Wir haben alle noch Angst. Die kannst du dir nicht abtrainieren. Ich habe nur vor einiger Zeit meine Selbstachtung zertrümmert und deswegen kann ich mit ihr umgehen. Ich halte sie im Schach. Nicht sie mich." Ich sehe an ihm vorbei, weil ich sonst einknicken würde. Dabei will ich sauer auf ihn sein.

„Jo, ich bin glaube nicht der, für den du mich hältst." Er lässt meine Arme los und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Etwas ruckartig und aggressiv, impulsiv, keine Spur zärtlich, eher rau und so, wie ich's verdiene. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn jetzt doch anzustarren. „Für wen halte ich dich denn?", keife ich und spucke durch die Luft. „Für einen Guten." Ich schlucke. „Ich sehe es an der Art, wie du mich ansiehst. Du siehst in mir einen vollen Menschen. Dabei habe ich schon mit dem Sterben begonnen. Ich zerbröckle innerlich. Zerbrösle. Ich bin aus porösem Material gebaut." 

Jetzt steigen mir auch noch gottverdammte Tränen in die Augen. Ich will mich von ihm losreißen, doch zu süß sind seine Worte. Er sagt genau das, was ich dem Therapeuten sagen sollte. Er geht in meinen Körper, fischt in den Trümmern herum und was er herauszieht, formt er in Worte, die Sinn ergeben. Sowas kann ich nicht. Nur komisch, dass wenn es meine Worte gegeben hätte, sie so wie seine wären.

„Und jetzt küss mich endlich, bitte. Ich warte darauf schon die ganze Zeit", bringe ich hervor. 

GUILTWhere stories live. Discover now