VIII.

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Charlie

Dem Kuss auf der Dachterrasse sind weitere gefolgt. Es gab wenige Minuten nachdem wir an jenem Tag auf dem Dach rumgemacht haben, noch Einiges davon im Treppenhaus. Dann unten auf dem Kinderspielplatz vor den Plattenbauten. Und fortan bei jedem weiteren Treffen.

Ich habe Jo etwas besser kennengelernt. Sie wohnt bei ihrem Vater, redet nie über ihre Mutter. In der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im südlichen Teil der Stadt, da wo sie wohnt, riecht es etwas muffig. In ihrem Zimmer hängen Plakate von Sex Pistols, Nirvana und solchen Retro-Punk-Bands. Aber sie hört an sich nicht mehr viel Musik, meint sie. Sie trägt die dicken Kopfhörer, mit denen ich sie manchmal in der Stadt herumlaufen sehe, nur zum Spaß. Ich sehe sie tatsächlich manchmal, aber dann sage ich nicht immer was. Manchmal geht sie ganz nah an meiner Einrichtung vorbei, aber wissen, dass ich da wohne, tut sie nicht. Ich sag's ihr auch nicht.

Sie raucht meistens 'ne Schachtel pro Tag, deswegen darf ich sie auch als Kettenraucherin bezeichnen. In ihrer Innentasche trägt sie immer den Flachmann mit sich, nah an ihrem Herzen. Sie zieht die Nase kraus, wenn wir richtig heftig lachen müssen. Eigentlich ist sie echt hübsch, aber sie lässt sich gehen. „Ich sterbe halt auch, so wie du. Weißt du? Ich löse mich vor deinen Augen irgendwann auf und dann verschwinde ich wie der ganze Rauch, den ich verursache", hat sie mal gesagt.

Ihre Arme und Beine sind vernarbt, aber ich sehe immer weniger frische Wunden an ihr. Vielleicht ekelt sie sich davor, wenn ich zwangsläufig ihre Wunden berühre, weil wir nicht darauf verzichten wollen, einander anzufassen. Es ist ein gewohnter Umgang, den wir miteinander entwickelt haben. Wir sehen uns öfter in der Woche, treffen uns zu Spaziergängen, bei ihr zu Hause, auf Brücken und Dächern aller Art. Mal tunken wir unsere Füße in den Tod, aber eigentlich sind die Wochen mit ihr harmloser geworden.

Ich weiß nicht, ob sie gerade was plant. Vielleicht, jetzt wo wir so intim miteinander geworden sind, würde sie mir nicht mehr davon erzählen. Wer weiß? Aber eigentlich schätze ich Jo so ein, dass sie gar nichts planen wird. Wie sie schon mal meinte. Irgendwann wird sie aufwachen und wissen, dass es ihr Todestag ist. Ich finde das so besser. Ist irgendwie aufregender, wenn man gar nicht weiß, ob man sich wiedersieht. Ob es ein nächstes Mal gibt.

Seitdem ich sie kenne, ist alles ein bisschen anders geworden. Nachts liege ich wach und denke über Martin und die letzten zwei Jahre nach, aber es fühlt sich nicht mehr ganz so elendig und verzweifelt an. Ich denke nicht an das Ende, sondern mehr an unsere Kindheit. Als alles noch im Rollen war. Wenn ich vor Andy sitze, lache ich manchmal über seine schlechten Witze. Er denkt wohl, dass aus mir noch was wird. Doch daran hat sich nichts geändert. Ich bin immer noch gleichermaßen davon überzeugt, ein furchtbarer Mensch zu sein.

Um meinen Hals trage ich die Kette der Schuld, die drückt und sticht schwer auf meine Schultern und ich sehe sie immer, wenn ich in den Spiegel blicke. Ich fühle sie jetzt, fühle sie gleich, fühle sie morgen. Aber immer nur schön weiter ins Verderben mit mir.

Jeden Abend gehe ich raus in die Stadt und renne wie ein Verrückter vor der Schuld weg. Einmal bin ich mitten im Park kollabiert und im Krankenhaus aufgewacht. Als ich das Jo erzähle, kriegen wir beiden schier einen Anfall, weil's so lustig ist, dass ich haarscharf am Tod vorbeigeschliddert bin. Wir übertreiben voll oft. Wir trinken Unmengen an Alkohol und manchmal schreien wir, weil wir die Gesichter der Vergangenheit im Sternenhimmel erkennen. Sie hat auch Alpträume. Dann rauchen wir zum Runterkommen. Über die Vergangenheit reden wir nie.

Doch ich bin immer noch schuldig.

Und ich glaube, das ist Jo auch.  

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