12 - Ankunft - Teil 1

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Als er später zu Hause über seinen Hausaufgaben saß, ging ihm die Szene beim Griechen nicht aus dem Kopf. Es musste schwer für ihre Eltern sein, sie loszulassen und ihre eigenen Erfahrungen sammeln zu lassen. Ob es seinen Eltern ähnlich gegangen wäre? Würde er bis heute zu Hause wohnen, würden sie noch leben? Bestimmt. Er wäre wahrscheinlich erst nach Abschluss seines Studiums ausgezogen. Das hätte einiges leichtergemacht, denn dann würde er nicht neben der Ausbildung jobben müssen. Wobei der Job in der VHS bei Johann, wie Dieters Bekannter hieß, wirklich Spaß machte. Und nebenbei lernte er eine Menge und absolvierte die notwendigen Kurse. Zu einem nicht unerheblich vergünstigten Preis. Was ihm in mehrfacher Art und Weise zugutekam. Denn er hatte im Moment keine Probleme, die Rechnungen zu bezahlen, die ins Haus flatterten. Was wohl auch daran lag, dass er jetzt öfter bei Emma war und dort aß.

Er seufzte und versuchte, sich wieder auf die Matheaufgabe vor ihm zu konzentrieren. Aber es gelang ihm kaum. Er dachte ständig an seine Freundin. Wenn sie nicht da war, kam ihm sein Appartement immer so kalt vor. So unwirtlich. Er sah sich um. Es hatte sich einiges verändert, seit sie diese Wohnung zum ersten Mal betreten hatte. Es stand deutlich verstärkt Deko herum, vor allem Kerzen. Am Balkon hatte sich am meisten getan, denn da verbrachten sie die Abende, wenn es lau genug war. Was bald nicht mehr der Fall sein würde, da die ersten Vorboten des Herbstes schon zu sehen waren. Das Laub hatte sich verfärbt und morgens war es deutlich kälter. Er musste sich dringend ein paar Klamotten für den Winter kaufen. Die Sachen aus dem letzten Jahr passten nicht mehr. Er hatte tatsächlich noch mal einen Wachstumsschub gemacht. Die Hosen hatten deutliches Hochwasser. Er hasste Einkaufen. Er würde seine Liebste fragen, ob sie mitkam.

‚Aber vorher machst du deine bescheuerten Matheaufgaben, sonst wird das mit dem Studium nichts, weil du nochmal eine Ehrenrunde drehst', wies er sich selbst zurecht und zwang sich, sich auf die Aufgabe vor sich zu fokussieren.

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Als Emma am Freitag etwas später zu ihm kam, wirkte sie nachdenklich. Er fragte sie wieso und sie gab zu, dass sie eine Meinungsverschiedenheit mit Melina gehabt hatte. Denn diese war mittlerweile genervt davon, dass sie so oft von ihrer OP sprach. Ihre Freundin hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich jetzt für etwas Besseres hielt und sie ihre alten Freunde vergessen würde, sobald sie das Implantat hätte, und das machte Emma spürbar zu schaffen.

„Bin ich wirklich so schlimm?", fragte sie ihn ratlos und er hatte Mitleid mit ihr.

Er zog sie in seine Arme und sagte: „Nur ein bisschen. Es muss hart für dich sein, dich auf etwas so zu freuen und in deiner Welt damit anzuecken. Aber das ist nur ein Zeichen dafür, dass sie Angst haben, dich zu verlieren, weil du ihnen so wertvoll bist, Kleines."

„Aber wieso sollten sie mich dadurch verlieren? Das verstehe ich nicht. Ich bin trotzdem noch gehörlos, nur dass ich dann hören kann. Ich dachte nicht, dass ich mich zwischen den Welten entscheiden muss...", erwiderte sie und sah so bekümmert aus, dass ihm eng in der Brust wurde.

Er strich ihr zart über die Wange und meinte: „Das musst du auch nicht. Und das merken die Anderen ebenfalls, wenn sich der ganze Trubel etwas gelegt hat. Du bist einfach glücklich, dass dein Traum, Töne zu hören, in Erfüllung geht. Aber sie werden sehen, dass das deine Gefühle für sie nicht ändert. Sie waren deine Freunde, bevor du die Welt der Geräusche kennenlernen darfst und das werden sie auch bleiben, oder?"

„Wenn sie das wollen, dann schon. Aber im Moment zweifle ich daran, dass sie gewillt sind, eine hörende Emma zu akzeptieren. Ich habe Melina noch nie so wütend gesehen und ich kenne sie seit dem Kindergarten. Das macht mich fertig. Ist es wirklich so schlimm, dass ich mir Geräusche in meinem Leben wünsche?", fragte sie kaum vernehmlich und er sah, dass Tränen in den Augen seiner Liebsten schwammen.

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