15 - Die Welt der Töne - Teil 3

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Emma schlug die Augen auf und hörte: „Guten Morgen, Kleines. Alles Gute zu unserem Einjährigen."

Sie strahlte in die blauen Augen, die sie immer noch so bezauberten und flüsterte: „Das Gleiche, Krümel. Na, bist du bereit für den heutigen Tag? Immerhin bekommt man nicht jeden Tag sein Abschlusszeugnis. Mit einem grandiosen Schnitt. Ich bin so stolz auf dich, weißt du das? Und ab morgen bist du bis September ein freier Mann, bis dein Studium beginnt. Was machst du nur mit der ganzen freien Zeit, nachdem du die letzten Monate so gebüffelt hast?"

„Hm. Es freut mich sehr, dass ich dich stolz mache und was ich mit meiner Zeit anfange, weiß ich noch nicht. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Denn ich hatte auf was anderes hinauswollen, bevor du mit Schulkram angefangen hast", zog er sie leise auf und sie grinste, da sie genau spürte, auf was er hinausgewollt hatte.

„Ach nein?", fragte sie unschuldig und konnte sich ihr Grinsen doch nicht mehr verkneifen.

Als er das bemerkte, kitzelte er sie, nachdem er geraunt hatte, sie sei ein Biest und sie kicherte. Sie wand sich unter seinen Händen, die genau die Stellen ausmachten, wo sie besonders kitzlig war. Auch Daniel lachte vergnügt, ehe er innehielt und ihr tief in die Augen sah. Immer noch beschleunigte sich ihr Herzschlag sofort. Dann wurde sie ganz ruhig, als er anfing sie zu küssen und zu streicheln. Ehrfürchtig vernahm sie die leisen Geräusche, die jetzt auf ihr Ohr trafen.

Das Radio aus der Küche, wo ihre Eltern gerade dabei Frühstück machten, wie das Klappern des Geschirrs verriet, das Rascheln der Bettdecke, als Daniel sie zur Seite schob, sein leises Seufzen, als er den Kuss vertiefte. Oder war sie es, die seufzte? Sie konnte es nicht ausmachen, denn sie war abgelenkt. Von den sanften Streicheleinheiten, die Daniel ihr angedeihen ließ und seinen Reaktionen auf ihre Zärtlichkeiten.

Seit ihrem Zusammenbruch vor vier Monaten hatte sich so viel getan. In vielfacher Hinsicht. Sie hörte jetzt fast das komplette Spektrum der menschlichen Stimme und hatte sie sich das zweite Cochlea-Implantat setzen lassen. Das war kurz nach ihrem Geburtstag nach Pfingsten gewesen, also früher als ursprünglich geplant. Denn ihre Eltern und sie hatten damals beschlossen, dass sie das Schuljahr wiederholen würde. Ihre Noten waren ohnehin mehr abgesunken, als sie das hatte wahrnehmen wollen. Sie hatte die Prüfungen also nicht mitgeschrieben, sondern sich stattdessen das zweite CI implantieren lassen. Sie hatte sich bewusst für ihren Traum entschieden, die Welt zu hören. Die Schule hatten sie eingeweiht und sie hatten ihr keinerlei Steine in den Weg gelegt. Sie würde ab September einfach die Abschlussklasse wiederholen. Bis dahin musste sie nicht mehr so oft zu Frau Engelhart, die sie weiterhin betreute. Oder zu ihrer Hörakustikerin Frau Müller, die nächste Woche die Erstaktivierung ihres zweiten Prozessors vornehmen würde.

Diesmal hatte sie nicht so viel Angst vor dem Eingriff gehabt und danach auch nicht so viele Schmerzen. Daniel war am OP-Tag wieder an ihrer Seite gewesen, denn sie hatten den Termin so gelegt, dass er an dem Tag gewesen war, an dem er Prüfungspause hatte. Die nächsten beiden Tage hatte er dann wieder Prüfung geschrieben und war danach sofort ins Krankenhaus gekommen, um den Tag mit ihr zu verbringen. Sie hätte nicht glücklicher sein können. Sie hatte ihr Ziel, ihr Hörspektrum auf fast das gesamte Volumen der menschlichen Stimme auszudehnen, trotzdem erreicht. Obwohl sie den Druck rausgenommen und begonnen hatte, ihre Erfolge auch ein bisschen zu genießen. Natürlich lief nicht alles perfekt. Aber das musste es auch gar nicht.

Denn in diesem Moment reichte es ihr völlig, dass Daniel ihr ins Ohr raunte, wie sehr er sie liebe und wie er leise die Luft einsog, als sie an seinem Ohr knabberte. Das war die Welt gewesen, die sie sich selbst so schnell wie möglich hatte eröffnen wollen und es war ihr geglückt. Mit ihm an ihrer Seite. Ein Jahr. 365 Tage voller Leben, Leiden, Streit, Glück, Angst, Hoffnung, Enttäuschung, Freude, Herzklopfen, Ernüchterungen und Lieben. Sie wollte keinen einzigen Tag missen.

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