14 - Der Weg - Teil 1

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Als ihre Eltern ihr signalisierten, dass die Einstellung des Gerätes vorbei war, erhob sie sich von ihrem Stuhl und las, wie Frau Müller sagte: „Nicht aufgeben, Emma. Das wird schon. Du hörst. Das ist etwas. Das mit der Stimme wird. Das kann ganz schnell gehen, oder auch nicht. Deine Eltern und dein Freund wissen, wie du trainieren kannst. Schlaf eine Nacht darüber. Morgen sieht die Welt wieder anders aus. Wir sehen uns am Montag, vielleicht können wir da ja schon etwas nachstellen."

Sie musste sich zusammenreißen, nicht bissig zu werden. Sie nickte nur kurzangebunden und schlich zur Tür hinaus. Zu Hause flüchtete Emma sofort in ihr Zimmer und Daniel sah ihre Eltern betreten an. Das war definitiv anders gelaufen, als sie es sich alle für sie gewünscht hatten. Er hatte schon bemerkt, dass die Hörakustikerin ihre Begeisterung nicht ganz so freudig geteilt hatte, aber verstanden hatte er es nicht. Erst als sie ihm erläutert hatte, weshalb sie so verhalten war. Doch sie hatte ihnen versichert, dass nicht Hopfen und Malz verloren war. Es würde nur dauern, bis Emma richtig große Hörerlebnisse haben würde. Allen voran das Hören und Verstehen von Sprache. Aber Frau Müller hatte versprochen, sich mit Emmas Logopädin Frau Engelhart zusammenzusetzen und einen Plan zu erarbeiten, wie sie seiner Freundin so schnell wie möglich positive Erlebnisse ermöglichen konnten. Er wusste jedenfalls, dass er jetzt Emma auffangen musste. Und er wusste vielleicht auch wie.

Das sagte er auch ihren Eltern, die angaben, sie würden das Abendessen machen und er nickte in ihre betretenen Gesichter. Dann betrat er ihr Zimmer und schaltete das Licht aus und an, so dass Emma wusste, dass sie nicht mehr alleine war. Sie lag auf dem Bett und hatte ihr Gesicht im Kissen vergraben und weinte heftig. Ihm war ganz schwer ums Herz, wenn er sah, wie sehr sie litt. Er ging zu ihr und legte sich zu ihr.

Als er sie in die Arme ziehen wollte, sagte sie: „Will reden ich nicht! Lässt du mich allein!"

Er schüttelte nur den Kopf und zog sie trotz ihres Widerstandes an seine Brust. Es dauerte etwas, bis sie seine Umarmung akzeptierte und die Stirn gegen seine Schulter sinken ließ. Er litt mit ihr, während sie von ihren Schluchzern geschüttelt wurde. Er konnte sie so gut verstehen. Sie hatte hohe Erwartungen an diesen Tag gehabt. Sie hatte ihm wiederholt gesagt, dass sie wisse, es sei unrealistisch, dass sie von Anfang an Stimmen in Normallautstärke höre, aber sie hatte gehofft, das menschliche Spektrum abzudecken. Aber sie lag knapp über dem Pegel eines Streitgesprächs. Und der lag bei achtzig Dezibel. In etwa. Ihr Hirn verarbeitete Töne im Umfang zwischen 83 und 95 Dezibel. Das war im Moment nicht viel. Aber er würde mit ihr üben, bis es breiter wurde. Immer mehr. Sie musste nur geduldiger sein, als jemand, der schon gehört hatte. Was ihr schwerfallen würde, doch mit jedem Teilerfolg würde sie motivierter werden.

Sie hatten versucht, ihr trotzdem ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Er hatte die Worte von Frau Müller gebrüllt, weil diese gehofft hatte, dass eine Männerstimme, die tiefer und lauter war, für sie hörbar sei. Doch auch ihn hatte sie zuerst irritiert und dann geschockt angesehen. In dem Moment war ihm das Herz stehengeblieben und seine Brust war ihm eng geworden. Aber sie würden das hinbekommen. Das hatte auch Frau Müller immer wieder betont.

Er ließ den Blick auf den Nachttisch gleiten, während er merkte, dass ihr Tränenstrom allmählich nachließ. Sie hatte das Gerät abgenommen. Was bedeutete, sie gab auf. Nicht mit ihm. Sie hatte Chancen, dass der Eingriff doch noch zum Erfolg führte, und sie gab nicht auf!

Er schob sie von sich und fragte sie: „Gibst du schon auf, ja? Der ganze Aufwand dafür, dass du deinen Sprachprozessor jetzt abnimmst und dich verkriechst?"

„Wieso sollte ich ihn tragen? Das, was ich hören möchte, höre ich nicht! Ich will Stimmen! Lachen! Alltagsgeräusche! Und ich vernehme zwei beschissene Töne!", fuhr sie ihn an und er nickte langsam.

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