𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟔

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Irgendwann am Abend klopfte es an meiner Tür. Mit der Erwartung Thiago davor zu treffen, öffnete ich schwungvoll die Tür. Doch anstatt Thiago zu sehen, schaute ich direkt in Marianas grüne Augen. „Darf ich reinkommen?", fragte sie und ich nickte. Ich schloss hinter ihr die Tür und gemeinsam setzten wir uns auf das kleine Sofa, welches vor dem Bett stand. „Wie geht es dir?", richtete sie sich an mich und schaute mit fragend an. „Ganz gut. Das alles ist noch ein bisschen surreal, aber langsam gewöhne ich mich mehr oder weniger daran." „Das ist gut, denn Thiago wird dich nicht mehr so schnell gehen lassen und desto schneller du dich an die Situation gewöhnst, umso schöner wirst du es hier haben."


                                                                            — 𝑴𝒂𝒓𝒊𝒂𝒏𝒂 —

„Wenn du willst, kann ich dir ein paar Sachen erzählen, damit du das alles hier ein bisschen nachvollziehen kannst." Drauf nickte Nea nur und ich fing an ihr die Situation und den Grund , warum sie hier war, zu erklären.


𝑭𝒍𝒂𝒔𝒉𝒃𝒂𝒄𝒌:

Gerade saß ich auf der Couch im Wohnzimmer, als sich mein mittlerer Sohn neben mich setzte. „¿Mamá, Tienes un minuto?", sprach Thiago mich an. „Claro", antwortete ich ihm, stellte mein Weinglas auf den Tisch und drehte mich zu ihm um. „Also, ich habe ein Mädchen entdeckt.

Weißt du noch, als ich mich vor 4 Wochen mit Papá gestritten habe und dann voller Wut aus dem Haus gestürmt war?" „Natürlich. Ihr zwei hattet beide euer Temperament nicht unter Kontrolle.", erinnerte ich mich mit einem Grinsen an dem Abend. Mein Mann hatte sich danach im Gym verschanzt und kam erst zu Abendessen wieder raus. Und mein Sohn, der war weggefahren.

„Nachdem ich mit meinem Auto das Anwesen verlassen hatte, bin ich erstmal den Highway entlang gefahren. Irgendwann wurde mir das zu langweilig, also bin ich nach Queens gefahren. Dort bin ich dann ewig durch die Straßen gekrochen und habe mir die Wohnzimmer der Leute angeschaut, bis ich ein Mädchen entdeckte, welches an ihrem Schreibtisch saß. Ich hab angehalten und sie genauer beobachtet", kurz machte er eine Pause, bevor er fortfuhr: „Sie saß da nicht nur rum und hat gelernt, nein. Sie hat geheult. Ihr ganzer Körper hat förmlich gebebt und die Tränen sind ihr nur so über die Wangen gelaufen. Mamá, ich habe Mitleid verspürt. Ich und Emotionen, dass passt doch überhaupt nicht!"

Das passte wirklich nicht, mein Sohn zeigte seinen Emotionen selten und zugeben tat er sie erstrecht nicht. „Ich stand 20 Minuten vor ihrem Haus, ehe ich wieder nach Hause gefahren bin. In den 20 Minuten, kam ihre Mutter rein. Anscheinen hatte das Mädchen sie gehört, denn sie hatte sich blitzschnell aufgerichtet, die Tränen weggewischt und ein Lächeln aufgesetzt. Die Mutter kam rein, hat ihr irgendwas gesagt, danach wieder das Zimmer verlassen und nichts gemerkt.

Nach diesem Abend bin ich jeden zweiten Tag zu diesem Haus gefahren und habe geschaut, was sie macht und wie es ihr geht. Ich glaube innerlich habe ich gehofft, sie nicht wieder weinend vorzufinden, doch das habe ich. Jeden Abend, jeden verdammten Abend saß sie an ihrem Schreibtisch hat geweint. Ich weiß, eigentlich sollte mich das Wohlergehen anderer Menschen nicht wirklich interessiert, aber bei ihr ist das anders. Mein Körper schreit förmlich danach, ihr zu helfen.", mit verwirrter Miene schaute ich meinen Sohn an. „Und was genau willst du mir jetzt damit sagen?", fragte ich ihn und blickte in seine grünblauen Augen.

Dabei merkte ich mal wieder, dass er wirklich eine Mischung aus mir und José war. Er war groß und breit gewachsen wie sein Vater. Das Temperament hatte er aber eindeutig von mir. Zwar hatte José das auch, aber meines war stärker. Ebenfalls besaß er die gleichen schwarzen Haare wie mein Ehemann und ich. Thiagos Augenfarbe war eine Mischung aus meinen smaragdgrünen und Josés eisblauen Augen. In so Momenten wie jetzt, erinnerte er mich sehr an seinen Vater in jungen Jahren.

„Ich möchte sie zu mir holen!", riss mich mein Sohn aus den Gedanken und geschockt sah ich ihn an. Sofort dachte ich an meine Vergangenheit und wie ich zu José gekommen war. „Thiago, du kannst nicht einfach ohne Grund ein Mädchen zu dir holen." „Doch, dass kann ich und werde ich. Mamá, es ist wie bei dir. Ich will sie nur aus ihren Verzweiflungen befreien. Das ist mir heute Abend bewusst geworden. Du weißt doch genau, wie es ist, wenn man nicht mehr weiter weiß, jeden Abend weint und niemanden hat, an den man sich wenden kann. Denk mal daran, wie es dir ging, bevor Papá dich geholt hat." Leider hatte Thiago recht, ich war verzweifelt gewesen zu Hause. Tagsüber war ich oft lange unterwegs gewesen, um möglichst nicht zu Hause zu sein. Meinen Eltern war ich egal gewesen und mein Vater hatte mich immer nur zu irgendwelchen Boxkämpfen mitgeschleppt, zu denen ich überhaupt nicht wollte. Um mein Wohlergehen hatten sich die beiden einen Dreck geschert.

Einsichtsvoll nickte ich. „Wenn du es für richtig hältst sie zu dir zu holen, dann tue es. Ich unterstütze dich dabei, sag mir nur bitte Bescheid, wann du sie genau holen willst, damit wir ein Zimmer vorbereite können." „Ich sag dir Bescheid, aber sie wird bei mir schlafen!", machte mir mein Sohn knallhart klar und erhob sich. „Buenas noches", rief er mir noch zu, bevor er durch die Tür verschwand. „Buenas noches mi hijo", antwortete ich ihm, trank den letzten Schluck meines Rotweines aus und lief in mein Schlafzimmer. 

Sánchez || Entführt oder gerettet?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt