𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟗

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 - 𝑬𝒍𝒊𝒂𝒏𝒂 -

Seit bestimmt zwei Stunden schoss ich schon auf die, ungefähr 15 Meter weit entfernte, Wand. Auf ihr hing eine Zielscheibe, die mittlerweile von Löchern übersäht war. Eigentlich half mir Schießen immer dabei mich zu beruhigen und runterzukommen, doch nicht dieses Mal. Die Kraft hatte meine Arme schon längst verlassen und auch meine Beine drohten in sich zusammenzukrachen. Aber ich wollte nicht aufhören, ich konnte nicht aufhören. Der Druck in meiner Brust war nicht verschwunden und auch die Tränen kullerten weiter über meine Wangen. Klick, Schuss. Klick, nächster Schuss. Desto mehr Kugeln ich abfeuerte, umso größer wurde der Kloß in meinem Hals. Es fühlte sich an, als würde meine Kehle abgeschnürt werden und immer weniger Luft drang in meinen Körper ein. Vor meinen Augen wurde es schummrig und alles fing sich an zu drehen. Gerade als ich meine Pistole fallen gelassen hatte, spürte ich zwei Arme, die mich fest umklammerten...


- 𝑨𝒍𝒆𝒋𝒐 -

Nachdem ich mich versichert hatte, dass es Thiago einigermaßen gut ging und nun Pablo bei ihm war, joggte ich die Treppe nach unten und begab mich ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß meine Tante, die meine Mutter fest im Arm hielt. Ihr Körper bebte und ihr Schluchzen waren auch nicht zu überhören. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und beschloss mich erstmal nicht zu zeigen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass die beiden anfangen würden, miteinander zu reden, doch stattdessen saßen sie einfach nur da und blickten vor sich hin. Losgelassen hatten sie sich nicht, was ein echt schönes Bild ergab.

Nach ein paar weiteren, vergangen Minuten räusperte ich mich und lief auf die Couch zu. Schnell versuchte meine Mamá ihre Tränen wegzuwischen, doch ich hielt sie auf. „Mamá, du brauchst deine Tränen nicht vor mir zu verstecken. Ich weiß, warum du dir das Video nicht länger anschauen konntest.", richtete ich mich an sie und blickte in ihre wunderschönen, eisblauen Augen. Jedes Mal aufs Neue erinnerten sie mich an das ewige Eis der Antarktis, das einen nur so verschluckte. „Aber woher..?", stotterte sie, woraufhin ich ihre Hand nahm. „Ich bin dein ältester Sohn, ich weiß mehr als du denkst.", antwortete ich ihr. Dass mein Vater mir davon erzählt hatte, ließ ich beabsichtigt weg. „Ach hijo,", seufzte sie, „te amo." „Te amo también", verabschiedete ich mich und gab ihr noch einen Kuss auf die Wange, bevor ich das Wohnzimmer verließ.


- 𝑻𝒉𝒊𝒂𝒈𝒐 -

Ich saß an meinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster in den dunklen Wald. Pablo saß mir gegenüber und ich spürte deutlich seinen stechenden Blick auf meiner Haut. „Spuck's aus.", sprach ich ihn an. „Sag du mir was los ist.", antwortete er, woraufhin ich meinen Körper zu ihm drehte, doch mein Kopf weiter in Richtung Fenster zeigte. „Es ist nichts. Außer, dass meine Frau entführt wurde und ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.", gab ich geistesabwesend von mir. Dabei verharrte mein Blick weiter auf den dunkelgrünen Tannen, die nur leicht vom Mond beleuchtet wurden. „Erzähl keinen Bullshit. Sag mir was los ist. Manchmal hilft es, wenn man sich etwas von der Seele redet.", ließ mein Bruder nicht locker. Genervt stöhnte ich auf. Jetzt fing er schon an wie Mamá, die einem immer erzählte, dass Reden der Schlüssel zur Lösung sei.

„Du brauchst gar nicht so genervt zu sein. Dafür hast du nämlich keine Zeit hermano.", stocherte er weiter, was das Fass nun vollkommen zum Überlaufen brachte.

 „Verdammte Scheiße, ja du hat recht. Nichts ist okay.", fuhr ich Pablo an. „Während meine Frau, die ich über alles liebe, vergewaltigt und gefoltert wird, sitze ich hier dumm rum und ertrinke in Verzweiflungen. Ich weiß nicht wie und wo ich anfangen soll nach ihr zu suchen und generell herrscht totale Leere in meinem Kopf. Und das hasse ich, ich hasse es keine Kontrolle über mich und über die Situation zu haben.", donnerte ich weiter. „Nea braucht mich und was mache ich? Richtig, ich mache nichts. Und dafür hasse ich mich. Ich bin überfordert. Das ist ein Gefühl, dass ich noch nie verspürt habe und das macht mich kirre.", versuchte ich mich zu erklären. Es war die Wahrheit. Ich war in meinem ganzen Lebe noch nie verzweifelt gewesen. Zumindest nicht so sehr, dass ich mich erstens daran erinnerte oder zweitens, dass es mich so aus der Fassung gebracht hatte. „Ich will nichts sehnlicher, als sie wieder in meinem Arm zu haben, denn dann lasse ich sie nie wieder los.", ich beugte mich auf meinem Stuhl nach vorne und schlug den Kopf auf den Tisch. Sollte ich Pablo mehr erzählen? Musste er besser über mein Leben Bescheid wissen?

„Hermano, du kannst das wahrscheinlich nicht nachvollziehen, weil du keine Frau an deiner Seite hast, aber ich versuche es zu erklären. Wenn eine Frau, und ich meine eine, in die du dich verliebst, in dein Leben tritt, willst du alles für sie tun. Du willst, dass es ihr gut geht, sie sich wohl fühlt und glücklich bei dir ist. Du würdest selbst für sie die Sterne vom Himmel holen, auch wenn das jetzt sehr übertrieben klingt. Bei Nea und mir ist das anders gelaufen. Ich habe sie gesehen und wollte sie direkt haben. Doch ich war ihr unbekannt und sie vertraute mir daher auch nicht. Am Anfang war es holprig, aber ich hatte das Gefühl es wurde besser. Doch dann habe ich von Papá erfahren, dass einer seiner Bekannten mit dessen Frau erpresst wurde. Sie wurde erst vergewaltigt und dann, als er der Forderung nicht nachgekommen ist, schließlich erschossen." Pablos Kehlkopf regte sich. Es war überrascht, sowas von mir zu hören, denn ich sprach nicht oft über meine Gefühle. 

Milo, Pablo und ich waren uns sehr ähnlich und doch hatten wir alle unsere Unterschiede. Milo war der Einfühlsame, was aber wahrscheinlich noch an seinem Alter lag. Pablo war der Charmeur. Von außen wirkte er wie ein Typ, der eine große Klappe hatte, aber nichts dahinter steckte. Doch sein engster Kreis wusste, dass das absolut nicht der Wahrheit entsprach. Pablo wahr ehrlich, gab seine eigene Meinung deutlich zu verstehen und versteckte sich nicht hinter anderen. Hinter seinen Augen, die eigentlich so kalt wirkten, steckte ein herzlich Mensch, der nicht gerne tötete, es aber trotzdem ab und an tat. Er verspürte Mitleid, nicht viel aber definitiv mehr als ich es tat. Dennoch sorgte ich mich am allermeisten von uns drein um unsere Familie. Und das war die größte Sache, die uns unterschied. Ich war der Kalte, der fast nie seine Emotionen preisgab. Trotzdem besaß ich ein Herz, dass Mitgefühl für seine Familie hatte. Ich zeigte es nur nicht, denn es machte einen schwach und eben angreifbar. Und genau das wollte ich schon mein ganzes Leben lang nicht sein...

„Seitdem habe ich mich von Nea entfernt. Ich war tagsüber länger in der Zentrale, ich habe mehr Aufträge bearbeitet  und generell viel weniger Zeit mit ihr verbracht.", fuhr ich fort. „Warum?", wollte Pablo wissen und kratze sich an seinem leichten Drei-Tage-Bart. Ganz so kaufte ich ihm diese Frage nicht ab, denn ich vermutete, er wusste die Antwort schon, doch wollte sie noch mal von mir hören. „Weil ich schwach geworden bin. Sie hat mich schwach und damit angreifbar gemacht. Mit ihrer lebendigen und freundigen Art. Sie hat Dinge, Emotionen und Gefühle in mir ausgelöst, die ich noch nie zuvor in meinem Leben so gespürt hatte. Das hat mich beunruhigt und deshalb habe ich sie von mir fern gehalten. Damit wollte ich sie nur beschützen.", antwortete ich. „Aber jetzt weiß ich, dass es der größte Fehler meins Lebens war. Denn sie ist weg, weil wir uns gestritten haben. Gestritten darüber, wie es mit uns weitergehen soll, wenn ich sie weiterhin ignoriere und aus meinem Leben halte.", fügte ich hinzu. „In dem Moment, indem ich sie hätte festhalten müssen,  habe sie von mir gestoßen."

„Manchmal merkt man leider erst, wenn etwas weg ist, dass man es in seinem Leben braucht. Also hör jetzt nicht auf für sie zu kämpfen Hijo, auch, wenn es wehtut. Hör erst auf, wenn du sie wieder bei dir hast und sie sicher in deinen Armen liegt. Denn dann, lässt du sie nie wieder gehen."

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Ich bin seit gestern so extrem glücklich wegen dem Kapitel, das ist unglaublich.  Es entspricht einfach wieder zu fast 100% meinem Schreibstil!!!

Die letzten Kapitel mochte ich natürlich auch, aber ich glaube jeder, der selbst schreibt, weiß was ich meine. Es gibt einfach Kapitel, mit denen man sich mehr identifiziert als mit anderen.

Wie immer hoffe ich, dass euch das Kapitel gefällt <3

Buenas Noches 

Sánchez || Entführt oder gerettet?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt