Vierzehn: Die Schatten der Vergangenheit

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KÖNIGREICH ESYLLT

NEVA

"Du.. bist.. der Schneekönig?", fassungslos starrte ich Chion an.

"Aber wie..?"

Chion zuckte nur mit den Schultern.

"Bis vor kurzem waren all meine Erinnerungen an diesen Ort gelöscht. Ich hatte erst wieder Zugang zu ihnen, als uns die wandelnden Pfade hierher gebracht haben."

Immer noch sprachlos schüttelte ich meinen Kopf.

"Das.. das heißt du.. Maeve, du konntest ihr gar nicht helfen oder?"

Zornig ballte Chion seine Hände zu Fäusten. "Ich wusste es nicht. Dass..", seine Kiefermuskeln spannten sich an.

"..dass du Maeve hättest heilen können.", beendete ich flüsternd seinen Satz.

Mitgefühl stieg in mir auf und setzte sich in meiner Brust fest. Aus einem mir unerklärlichen Grund tat es weh, Chion so voller Selbsthass zu sehen. Auch das letzte bisschen Wut war mit einem Mal wie weggeblasen.


Entschlossen stemmte ich mich hoch und tapste mit wackeligen Schritten auf ihn zu. Dann griff ich seine Schultern und zwang Chion, mich anzusehen.

"Chion, hör auf. Du kannst nichts dafür, was passiert ist. Wie hättest du ohne deine Erinnerungen wissen sollen, dass du so etwas kannst?" 

"Trotzdem hätte ich irgendwie.. irgendetwas fühlen .."

Einem plötzlichen Impuls folgend schlang ich beide Arme um Chions Mitte und legte meinen Kopf auf seine Brust. Dann begann ich, in sanften Bewegungen über seinen Rücken zu streichen. Augenblicklich verkrampfte sich Chions Körper; ich konnte hören, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.

"Sei nicht so hart zu dir Chion, du bist kein schlechter Mensch.", entgegnete ich bestimmt.

Ich merkte, wie Chion sich durch meine Worte entspannte; gelöst vergrub er sein Gesicht in meinem immer noch feuchten Haar. Eine Weile standen wir so da und ich registrierte, wie Chion sich langsam beruhigte.

Mit einem gemurmelten "Danke." löste er sich schließlich von mir und stützte mich auf meinem Weg zurück zum Bett. Dann holte er ein paar frische Leinentücher aus einem Schrank im Nebenzimmer und wechselte die nassen Bettlaken. 



Nachdenklich blickte ich zu dem blauen Stoff über mir auf. Der Baldachin meines Bettes hatte denselben Farbton wie Chions Augen- ein kräftiges eisblau.

"Wessen Zimmer ist das hier eigentlich?", fragte ich beiläufig. 

Dieser Raum war zu edel eingerichtet, um einem einfachen Bediensteten zu gehören und ich wollte keinesfalls einer von Chions Schwestern das Zimmer streitig machen. 

"Normalerweise schlafe ich hier."

Mein Blick schnellte zu Chion zurück. Dem Schneekönig. 

Götter, ich befinde mich im Schlafzimmer eines KÖNIGS.

Blut schoss mir in die Wangen und färbte diese rosa. An Chions spöttischen Grinsen erkannte ich, dass auch ihm meine Verlegenheit nicht verborgen geblieben war. Mit drei großen Schritten war er bei mir. 

"Denkst du etwa an etwas Unanständiges?", immer noch grinsend ließ er sich auf die andere Seite des Himmelbettes fallen; mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lehnte er sich an das hölzernen Kopfteil, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Genau so hatte mich auch der kleine Junge angesehen- als wäre ich eine Schatzkarte, die es zu entschlüsseln galt.

The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt