Weltenbuch V

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Es war einmal eine kleine Hütte im Wald, in der lebte eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Die Mädchen waren von Geburt an unzertrennlich- tagein tagaus spielten sie im Wald, bis die Sonne unterging. Unterscheiden konnte man sie lediglich an der sonderbaren Farbe ihrer Haare: die eine hatte Locken wie der Schnee im tiefsten Winter, die andere Haar, das rot wie die untergehende Sonne glänzte. Vor dem Haus wuchsen zwei Rosenbüsche- der eine mit roten, der andere mit weißen Rosen- sie waren so selten und wunderschön, wie die Farben ihrer Haare.


Jeden Abend wurde die Hütte der kleinen Familie wahrlich wohnlich gemacht: ein Feuer wurde entfacht, eine Suppe gekocht und die schwere Eingangstüre verriegelt- auf dass kein Räuber des nachts eindringen konnte. Eines Abends klopfte es dennoch an der Türe und eine tiefe Stimme bat um Einlass. 

Das rothaarige Mädchen, das wesentlich mutiger war als ihre Schwester, öffnete daraufhin die Türe und ließ den späten Gast ein. Es war ein Bär, der Schutz vor der Dunkelheit gesucht hatte. Für die Familie war das nicht ungewöhnlich: die Schwestern waren in der ganzen Tierwelt dafür bekannt, den Schwachen Schutz und Hilfe zu gewähren. So schlief bereits eine Taube und ein kleiner Wolf bei ihnen, als der Bär dazukam.

Nach diesem Ereignis kam der Bär eine jede Nacht wieder und die Kinder schlossen ihn immer mehr ins Herz. 



So vergingen einige Sommer und die Mädchen waren zu Frauen erblüht. Die Besuche des Bären waren indes immer weniger geworden, bis sie schließlich gänzlich ausblieben. Eines sonnigen Nachmittags spazierten die Schwestern durch den Wald und hörten alsbald ganz grauenhaftes Gezetere durch die Bäume hallen. Sie folgten dem Geräusch und fanden einen Zwerg, der seinen Bart in einem Holzblock eingeklemmt hatte. Alles Ziehen und Zerren half nichts- das wallende Haar des kleinen Männchens ließ sich nicht befreien. So zückte die rothaarige Schwester eine Schere und schnitt den Bart ganz unten ab. Der Zwerg war darüber ganz und gar nicht erfreut; war doch der Bart eines Zwerges sein ganzer Stolz. Unter derben Flüchen sammelte er seine Edelsteine zusammen und suchte das Weite. 

Noch zwei weitere Male mussten die Frauen ihm aus der Klemme helfen und dabei seinen Bart kürzen- so hatte sich der Bart des Zwergs ungünstig in einer Angelrute verfangen; ein anderes Mal hatte ein Raubvogel ihn gepackt. Nieerschien der Zwerg dankbar für die Hilfe der Frauen- im Gegenteil: er verfluchte sie so laut, dass man es noch im nächsten Dorf hören konnte.


So geschah es jedoch, dass nach der dritten Rettung ein Bär auftauchte. Er versetzte dem Zwerg einen Stoß mit seinen großen Pranken und machte ihm damit den Gar aus. Erschrocken wichen die Schwestern zurück; hatten sie doch große Furcht, dass es ihnen nun genauso ergehen würde.

Doch der Bär stand plötzlich aufrecht wie ein Mensch und streifte sein Fell ab. Darunter kam ein junger Mann zum Vorschein, dessen Kleidung golden wie die Sonne strahlte. Er war ein Prinz aus dem benachbarten Königreich, der von dem Zwerg verflucht worden war; der Tod des Männchens hatte diesen Fluch gebrochen.

Da erkannten die Schwestern in ihm ihren geliebten Gefährten, der seit Kindesbeinen ihre treuer Begleiter gewesen war. Zusammen kehrten sie zurück in die kleine Hütte im Wald. Kurz darauf wurde Hochzeit gefeiert zwischen der weißhaarigen Schwester und dem Sonnenprinzen; sein Bruder vermählte sich noch am selben Abend mit der rothaarigen Tochter. 

Die Schwestern zogen schon bald zu ihren Ehemännern in das Schloss; die Mutter jedoch blieb in der Hütte bei den Tieren; die beiden Rosenbüsche in ihrem Vorgarten trugen bis zu ihrem Tod ein jedes Jahr die schönsten Blüten im ganzen Land.

The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt