Rain

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Carag senkte den pelzigen Kopf zu dem kleinen Kind hinab, seine Schnurrhaare zitterten. Er stupste das Baby vorsichtig an. Das heulen war verstummt, stattdessen starrte es mit riesigen Augen zu ihm hinauf. Angst und Neugier spiegelten sich beide in den Augen wider.

Na, kleines, flüsterte Carag, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht verstehen konnte.

Carag blickte sich um. Alles war verlassen, sie waren alleine.
Seine Wut auf die Menschen war zunächst verflogen.
Er konnte das Baby nicht alleine zurücklassen. Sie würde sterben in der Kälte der Berge, wenn er ihr nicht half.
Vorsichtig nahm er sie am Genick, bedacht darauf, sie nicht mit seinen Zähnen zu verletzen.
Das Baby strampelte und weinte, als er es aus dem Dorf trug.

Carags Blick fiel auf die Fußspuren, die die Menschen im Schnee hinterlassen hatten.
Seine Ohren zuckten und er stieß einen Gedankenruf aus. Einige Momente wartete er in absoluter Stille auf eine Antwort, doch es blieb unheimlich still.
Kein Wandler war in der Nähe. Oder traute sich, zu antworten.
Trauer bohrte sich wie ein Pfeil in das Herz des Pumawandlers.

Er brachte das Baby zu Tikaani und seinen Kindern zurück und schilderte ihnen die Situation.
Sie suchten eine vom Schnee eingeschüttete Berghütte auf, die nicht allzu weit weg war und verwandelten sich zurück.
Zu ihren Glück gab es dort warme Mäntel.

"Carag, wir können nicht einfach dieses Menschenkind aufnehmen", sagte Tikaani ernst.
Er seufzte. "Tikaani, ich konnte es doch nicht dort liegen lassen!" Er war nicht überrascht, dass ihr die Idee nicht gefiel. Es war sehr spontan.
"Ich weiß, du willst das richtige tun, aber wir können nicht noch ein Maul füttern und dafür sorgen", widersprach die Wolfswandlerin.

"Aber dann könnten wir mit ihr spielen", mischte sich Amaruq ein.
Die Eltern schauten zu ihr und ihrem Bruder hinüber.
"Amaruq, Yuma, geht schon Mal schlafen. Nebenan ist ein Bett."
Betrübt verzogen sich die beiden in das besagte Zimmer. Dort war tatsächlich nur ein einziges Bett für alle Vier. Oder fünf.

"Tikaani", hob Carag erneut an. Er musste sie überzeugen. Er nahm ihre Hand. Sie war rau vom kalten Wind. "Ich verstehe deine Sorge, aber wir müssen ihr helfen."
Die Wandlerin zog die Hand weg. "Sie wird es wahrscheinlich in der Kälte nicht schaffen."
"Woher willst du das wissen?", entgegnete Carag. Er legte eine Hand auf die Stirn des Babys, welches mittlerweile aufgehört hatte zu schreien.
"Sie hat keine Eltern mehr, denke ich",sagte er. "Wer kümmert sich um sie?"

Tikaani verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah unwohl aus. "Also schön. Sie kann bleiben, erstmal. Aber mich interessiert, was ein Menschenbaby hier tut." Sie deutete auf die Kleidung, die niemals in dem Dorf der Wandler getragen worden war. Außerdem war das Baby gut genährt, besser als die Wandler. Ihre Haut war wunderbar weich, weil die Kälte und der Wind nie ihr Problem gewesen waren.
Zudem war auf den Schal, der eng um ihren Hals gewickelt war, ein Name aufgedruckt.
Rain.

Woodwalkers - In vielen JahrenWhere stories live. Discover now