zivilisation

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"Ja, das wüsste ich auch gerne", murmelte Carag mit einem Blick auf das Menschenkind. Er fuhr sich mit einer Hand durch die verfilzten, goldbraunen Haare.
Tikaani senkte den Blick und atmete tief durch. "Carag? Was hast du gesehen, als du im Dorf warst?" Ihre Stimme zitterte.
Er schluckte und biss sich auf die Lippe. Er setzte sich auf die staubige Eckbank, Tikaani neben ihm. Er griff nach ihren Händen. "Alles ist zerstört. Das ganze Dorf. Alles ist niedergebrannt."
Tikaanis schwarze Augen füllten sich mit Tränen. "Woher kommt nur dieser Hass? Was haben wir ihnen denn getan?"
"Ich weiß es nicht", flüsterte Carag halb verzweifelt. "Aber wir müssen so schnell es geht eine Stadt aufsuchen. Wir müssen die anderen kontaktieren."
Die junge Frau wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und spielte nervös an dem Zipfel ihres Mantels herum. "Ist das denn sicher? Und wen willst du überhaupt kontaktieren?"
Carag warf ihr einen verständnislosen Blick zu. Ihm fielen genug alte Freunde von ihnen ein. Die, die noch am Leben waren jedenfalls. "Na, zum Beispiel Holly oder Brandon oder Tiago. Oder Arula."
Tikaani stöhnte genervt auf. "Du hast nicht mal denen ihre Nummern. Oder weißt du vielleicht, wie du Holly anrufen willst?"
Er seufzte und wandte den Blick ab. "Vielleicht arbeitet sie noch als Altenpflegerin." Die Hörchenwandlerin hatte einen Berufsweg eingeschlagen, den ihr keiner zugetraut hatte. Wahrscheinlich erinnerten sie die vielen alten Leute an ihre Pflegeeltern, die Silvers, aber was aus denen geworden war, wusste Tikaani auch nicht.
"Ja, vielleicht", schnaubte sie ungläubig. Allerdings würde sie es Holly zutrauen, noch unter Menschen zu arbeiten, obwohl sie sich wahrscheinlich hundert Mal am Tag verwandelte. Sie wollte einfach nicht aufgeben. "Also schön. Wir lassen die Kinder jetzt erstmal schlafen und morgen gehen wir zur Stadt am Fuß der Berge, okay? Dann sehen wir weiter."

Gesagt, getan. In zweiter Gestalt zogen die vier Wandler durch die Berge, inklusive des Menschenbabys Rain, das von Tikaani im Maul getragen wurde. Das kleine Mädchen wehrte sich zunächst, aber schließlich funktionierte es ganz gut.
Yuka beschwerte sich schon auf der Hälfte der Strecke darüber, dass ihm die Beine wehtaten, und Amaruq wich ständig von besagter Strecke ab, um aufgeregt durch den Schnee zu springen. Sie verstanden nicht, wie ernst die Lage war.
Amaruq, komm wieder her, warnte sie ihre Tochte mit scharfer Stimme. Sie machte sich Sorgen, dass Menschen in der Nähe waren.
Wie weit ist es noch, Papa?, beklagte sich Yuka.
Nicht mehr lange, versicherte Carag ihm, obwohl sie noch eine ganze Weile laufen mussten.

Die Stadt war nichts besonderes. Keine bedeutenden Gebäude, sie war nicht schön oder groß und kaum jemand lief draußen herum. Kein Wunder bei den Temperaturen. Der Schnee lag zwar nicht so hoch wie weit oben in den Bergen, aber die Stadt selbst lag noch auf einer Höhe, auf der es kalt war.
Amaruq und Yuka, die nie in Kontakt mit den Menschen getreten waren und solche Städte nur aus der Ferne gesehen hatte, staunten dennoch nicht schlecht.

Wir sollten uns noch nicht zurückverwandeln. Bei den Temperaturen erfrieren wir, meinte Carag. Tikaani, kannst du dich umschauen? Nach einem warmen Ort, irgendwas, wo es Essen und Kleidung gibt ...
Die Wölfin zögerte nicht und legte Rain halbwegs sanft auf dem Boden ab, wo diese erstmal zu schreien begann, aber das war nun nicht mehr ihr Problem. Tikaani schlüpfte als Wolf zwischen den Häusern umher und schaute sich vorsichtig um.
Die Stadt wirkte verlassen, nur in wenigen Häusern brannte Licht und es standen vielleicht zehn Autos im ganzen Dorf herum. Auf den vereisten Straßen konnte man aber auch schlecht fahren und es lohnte sich wohl nicht, einen Straßenräumservice zu haben.
Tatsächlich fand die Polarwölfin einen Kleidungsshop, klein und gemütlich. Sie blickte durch das Schaufenster, an den gruselig starrenden Puppen vorbei, hinein. Niemand war im Laden, nicht mal ein Verkäufer. Dennoch stand die Tür offen.
Ohne lange nachzudenken betrat Tikaani den Laden und hoffte dabei, dass niemand sie gesehen hatte. Oder noch sehen würde. Ein Polarwolf, der durch einen Klamottenladen streifte und anfing, möglichst leise Kleidungsstücke von den Stangen zu ziehen, war nicht gerade unauffällig oder gewöhnlich.

Tikaani kehrte jedoch erfolgreich von ihrer kleinen Mission zurück. Sie schleppte so viele Klamotten, wie sie tragen konnte, mit sich. Dabei hatte sie schlecht darauf achten können, was sie überhaupt genommen hatte.
Das ist viel zu groß für die Kinder, kommentierte Carag stumpf, als er die Kleidung mit den Pfoten so gut es ging ausbreitete. 
Ja, sorry, wisperte Tikaani in seinen Kopf. Sie verwandelte sich und streifte sich einen roten Pullover und eine Jogginghose an. Wenigstens etwas gutes. Eine andere Jogginghose, die sie herausgeangelt hatte, bekam Carag, mit einer blauen Regenjacke zusammen.
"Ich kann doch nicht bauchfrei mit Regenjacke rumlaufen", beschwerte er sich.
"Dann mach sie halt zu", erwiderte Tikaani knapp und zog ihrer Tochter währenddessen einen Pulli an, der knapp über ihre Knie reichte. Dann nahm sie Rain auf den Arm. "So. Und jetzt suchen wir uns etwas zum essen."
"Aber wir haben gar kein Geld", widersprach Carag.
Seine Freundin zuckte die Schultern. "Dann klauen wir halt was."


Was denkt ihr ist mit den anderen Charakteren aus Woodwalkers und Seawalkers passiert? Ich verrate euch schon mal was: Einige Charaktere sind gestorben bzw. werden noch sterben. :)
Ach ja, die globale Situation wird in späteren Kapiteln auch noch mal aufgeklärt, aber Tikaani, Carag und Co. sind ja gerade erst in die Zivilisation zurückgekehrt und wissen deswegen nicht genau, was passiert ist und so.

Woodwalkers - In vielen JahrenWhere stories live. Discover now