die wucht des schildes

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"Einen Zusammenbruch?", fragt Ju und dreht sich hektisch zu seinem Bruder, von seinem mittlerweile fertigen Kaffee weg. Sein Herz schlägt immer schneller in seiner Brust, doch er versucht sich so gut wie nichts anmerken zu lassen, auch wenn die Sorge, die er gerade verspürt, viel zu gut in seinen dunklen Augen widerspiegelt wird. "Ja, so richtig, hat Lisa gesagt. Aber mehr weiß ich auch nicht.", bestätigt ihm Shawn seine Worte noch einmal, ebenso mit Sorge um Rezo in seiner Stimme, doch nicht einmal halb so sehr aufgebracht wie Julien.

Ju fühlt sich unfassbar schuldig. Er ist daran schuld, dass es zwischen den beiden nicht klappt, und jetzt geht es Rezo auch noch so schlecht deswegen, dass er einen Zusammenbruch hatte. Er muss Rezo besuchen. Aber wäre das wirklich eine gute Idee. Vielleicht nicht, wenn man daran denkt, wie sie auseinander gegangen sind. Schuldig starrt Ju in die Leere, während sich in ihm ein Chaos ausbreitet. Vielleicht sollte er ihn eher weniger besuchen. Rezo braucht seine Zeit, um das zu verdauen, denkt sich Ju. Vielleicht sollte er ihm ein bisschen Raum geben. Aber wieso hat Lisa das denn nicht ihm erzählt, hat Rezo die Nacht gestern ausgeplaudert. Ju wäre ihm deswegen auch nicht böse, aber er hat trotzdem Angst, ob Rezo das gemacht hat.

"Willst du ihn gleich besuchen gehen?", fragt Shawn direkt, als er Juliens leeren Blick sieht und bemerkt, wie angespannt sein Körper ist. Naja, nun mal stehen sich die beiden ziemlich nahe, erklärt sich Shawn den Grund, weshalb Ju so angespannt ist. Doch will Ju ihn wirklich gleich besuchen. Er spürt auf jeden Fall das Verlangen dazu. Er will unbedingt wissen, wie es ihm geht. Doch er ist daran Schuld. Wird Rezo ihn also überhaupt sehen wollen?

Mit einem sorgenvollen Blick löst sich Ju aus seiner Starre und wendet sich zu seinem Bruder. Der Blick scheint für Shawn die Nachfrage zu sein, ob er denn jetzt einfach Rezo besuchen darf und nach kurzem Überlegen nickt Shawn darauf. Er will es seinem Bruder ja nicht verbieten, nach einem guten Freund zu schauen, auch wenn die Zeit knapp ist, Freunde sind bekanntlich wichtiger als die Arbeit. Doch Ju ist in der ersten Sekunde überrascht über das Nicken, denn so hat er den Blick nicht gemeint. Aber schnell schließen seine Gedanken auf Shawns auf und er schenkt seinem Bruder ein dankbares Lächeln, bevor er seinen noch warmen Kaffee auf der Küchenzeile zurücklässt und mit schnellen Schritten über Treppen aus der Küche heraus eilt.

Mit einem unangenehmen Gefühl in seiner Brust macht sich Ju auf den Weg, aber wie die Aasgeier ihr Essen wird Ju sofort von dem Gedanken, dass er bei Rezo nicht erwünscht ist, gejagt und sein Gewissen wird nach und nach brutal von den großen Raubvögeln aufgefressen. Was soll er denn zu Rezo sagen, wenn er ankommt? Dass es ihm Leid tut? Aber das ist doch erbärmlich. Er sollte ihm sagen, dass er für ihn da ist. Aber ist er das denn, wenn er zu feige ist, die Gefühle zu erwidern und Rezo damit nur noch mehr verletzt? Wird Rezo Juliens Anwesenheit überhaupt verkraften?

Immer weiter steigert Ju sich in die viel zu vielen Möglichkeiten von Rezos Reaktionen hinein. Aber ob er sich zurecht in seine verworrenen Gedanken hinein steigert oder nicht, bleibt ihm vorerst unbekannt. Aber er weiß, dass er trotzdem einen Teil Verantwortung dafür trägt und dass er für seine Scheiße gerade stehen muss, oder? Auch wenn Rezo es nicht beherzigen wird, liegt es immer noch an Ju nach ihm zu schauen, oder?

Mit Kapuze über den Kopf gezogen, voller ungeklärter Fragen und anderen verwirrenden Gedanken in seinem Kopf, läuft er in einem schnellen Tempo über die Straßen in Richtung Rezos Wohnung. Ob er dort ist? Ist Lisa auch da? Sollte er sie vielleicht informieren, dass er kommt? Schnell fischt er sein Handy aus seiner Hosentasche und sucht den entscheidenden Kontakt. Schnell hat er sie gefunden und ruft ihre Nummer an. Hätte er vielleicht doch eher Rezo anrufen sollen? Vielleicht ist es zu unpersönlich, die Assistenz zu kontaktieren, anstatt Rezo.

Nach zweimal Tuten, in denen Ju völlig verloren um sich herum blickt, den Straßenverkehr beobachtet und die Menschen analysiert, hört er die bekannte weibliche Stimme und muss vor Erleichterung schwer ausatmen. "Hi.", ist die einfache Begrüßung von Rezos Assistenz, doch durch das etwas lautere und hektische Atmen am anderen Ende der Leitung hört er heraus, dass sie wohl in Eile ist oder vielleicht weit vom Handy weg war und schnell zum Anruf geeilt ist? Auch die unwichtigsten Informationen blockieren gerade seine Gedankengänge.

"Hey, Ju hier. Bist du bei Rezo?", fragt er und jede Zelle in seinem Körper betet förmlich dafür, dass sie jetzt nicht erwähnt, dass Rezo ihn nicht sehen will. "Ja, kommst du?", fragt sie und weiß anscheinend sofort, worauf er hinaus will. Ertappt kratzt sich Ju am Nacken, auch wenn sie es nicht sehen kann. Wieso weiß sie überhaupt, was er vorhat, obwohl sie ihn nicht informiert hat?

"Bin aufm Weg. Wollt' dich nur informieren.", atmet er laut in sein Handy hinein, während seine Beine wieder schneller werden. "Okay gut, kannst du noch- kannst du schnell kommen, wie lange brauchst du noch und wie lange kannst du bleiben?", fragt sie hektisch und Julien kann neben ihrer Stimme unidentifizierbare Geräusche am anderen Ende der Leitung höhen, scheint als würde sie durch die Wohnung laufen und durch das leise Poltern ab und zu mit dem schwereren Atem, schließt er darauf, dass sie vielleicht etwas sucht.

"Nicht mehr lange. Höchstens ein paar Minuten. Und ich hab heute genug Zeit.", murmelt er, während er überlegt, wie lange er von dieser Position noch in etwa zu Rezos Wohnung braucht, und versucht die Lüge über seine Zeit, die ihm soeben von den Lippen gerutscht ist, nicht weiter zu beachten. "Warum?", hängt Ju noch schnell hinten dran, da ihm nicht ganz schlüssig ist, weshalb sie ihn so dringend braucht und er ein wenig neugierig ist, was für eine Frage sie vorhin abgebrochen hat.

"Sag ich dir gleich.", haucht sie außer Atem in den Hörer und etwas enttäuscht auf die fehlenden Informationen kratzt sich Ju am Nacken. Doch eins wollte er noch wissen, bevor sie sich verabschieden. "Wie geht's Rezo?", seine Stimme ist plötzlich so viel leiser als zuvor und auch die Sorge ist nicht mehr zu überhören.

Eine unangenehme Stille am Handy entsteht. Das Rascheln hat für einen Moment aufgehört und auch das angestrengte Atmen wurde kurz stockender. "Er ist- Ihm geht's besser. Nicht gut. Aber besser. Er ist wieder halbwegs ansprechbar, also auf den Grund des Ganzen ansprechbar, doch wieso, weiß ich immer noch nicht. Und er hat auch endlich was gegessen und sich von der Idee- ach egal, du wirst es gleich selber sehen, aber er schläft gerade, doch ich weiß auch nicht, wie lange das anhalten wird.", flüstert sie ins Handy, als wäre jedes ihrer Worte fast schon illegal, doch auch viel Sorge schwingt in ihrer hellen Stimme mit.

Juliens Gedanken fangen an sich um ihre Worte zu drehen und auch wenn er ein paar Sekunden braucht um Gesagten zu verstehen, spinnt sich schon wieder in Jus Kopf ein rießiges Netz aus ungeklärten Fragen um Rezo. Er ist wieder auf den Grund ansprechbar, wie muss es ihm dann davor gegangen sein? Warum hat er 'endlich' was gegessen? Hat er davor etwa nichts gegessen und wieso hat er das? Und was meinte sie mit Idee, was für eine Idee und was hat er mit der Idee gemacht?

Und ein unangenehmes Gefühl, das von Schuld nur so trieft, hängt sich in dem Gewicht zwei großer dicker Steine an seine Schultern. Was hat er denn nur angestellt? Wie kann das alles nur aus seiner kleinen Entscheidung entspringen? Er wusste nicht, dass er Rezo so verletzen würde. Er wollte sich doch nur selbst schützen. Doch leider hat ihm niemand gesagt, dass er, wenn er sein schützendes Schild, nachdem er es kurz abgelegt hatte, wieder schnell über sich halten würde, mit der Wucht des scharfen Schildes jemand anderen treffen würde.

"Okay, bis dann. Ich beeil mich", verabschiedet er sich und gibt nochmal ein bisschen mehr Gas bei seinen sowieso schon langen Schritten. "Bis dann.", meldet auch sie sich ein letztes Mal, bevor der Anruf mit einem schrägen Tuten sein Ende nimmt und Ju mit seinen eigenen Gedanken und der Schuld, die an ihm haftet, konfrontiert wird.

Es dauerte nicht mehr lange und schnell haben seine Beine ihn vor die Haustür von Rezo geschleppt, so wie es Rezos Beine erst gestern Abend getan haben, nur mit dem Unterschied der vielen Tränen. Kurz atmet der Halbasiate noch einmal schwer durch, bis sein Zeigefinger den Nachnamen seines Freundes auf der Klingel findet und nicht zu lange, aber auch nicht zu kurz die Klingel betätigt. Ein paar Sekunden wird er mit der Stille alleine gelassen, bis dieselbe Stimme wie zuvor ihn wieder begrüßt. "Hallo, wer ist da?"

Sofort spannt sich alles in Julien an. "Hey, ich bin's.", antwortet er der vertrauten Stimme und nicht wenig später ertönt ein langer Piepton, in dessen Begleitung Julien die schwere Haustür aufdrückt und in das Treppenhaus tritt.


noch ein kurzes kapitel, sowie das gegenteil meines glieds ;)

bittersüß - juzoWhere stories live. Discover now