Mai 2005

493 46 66
                                    

„Jetzt komm schon!", Michael umgriff das Handgelenk seines kleinen Bruders noch fester. Die kürzeren Beine des blonden Jungen hatten Schwierigkeiten mit seinem Tempo mitzuhalten, aber Michael war nicht bereit, auch nur eine Sekunde seines Freitagnachmittags an Felix zu verlieren. Dieser Nachmittag gehörte ihm.

Für einen Tag im Mai war es ungewöhnlich warm, sodass auch er bald den Schweiß auf der Stirn spürte, aber es waren nur noch wenige Häuser entfernt, dann konnte er seinen Bruder bei der Nachbarin abliefern und die besonderen Stunden genießen, die ihm in der Woche für sich blieben. 

Ihre Eltern waren noch bis zum Abend unterwegs, auf der Arbeit oder Besorgungen erledigen. Was wusste er schon. Nur, dass sie an Freitagen an die liebenswürdige, ältere Frau abgeschoben wurden, da die Schule früher endete. Nur, dass Michael seit einigen Wochen nicht mehr dortblieb. Jetzt, wo kein Schnee mehr lag und die Sonne wieder an Kraft zunahm, hatte er ein neues Ziel. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er an letzte Woche dachte. Viel besser, als mit seinem Bruder Hausaufgaben zu machen und im Haus zu sitzen.

Das weiß getünchte Gartentürchen knarzte leise, als Michael es mit seiner freien Hand aufdrückte. Die andere umklammerte noch immer seinen Bruder, der mittlerweile japsend und prustend hinter ihm her taumelte. Vor der Haustür stellte Michael ihn ab, sah prüfend zu ihm hinunter. Felix hatte mit seinen zwölf Jahren noch immer ein niedliches Mondgesicht, das jetzt vor Anstrengung rot angelaufen war. Einige Strähnen klebten feucht an seiner Stirn.

„Du benimmst dich, haben wir uns verstanden?", sagte Michael streng. „Ich habe keine Lust, dass wir wieder Ärger kriegen, weil Du dich raus schleichen willst."

Felix zog schmollend eine Schnute. „Du gehst doch jetzt auch wieder."

„Ja", Michael presste die Lippen aufeinander und wich dem Blick seines kleinen Bruders aus. „Ich hole Dich um fünf wieder ab."

„Warum?"

„Ich bin älter. Darum."

„Du bist sechzehn."

„Ja, eben", diesmal lächelte er leicht und versuchte die verirrten Strähnen auf Felix Stirn nach hinten zu streichen, doch dieser stieß seine Hand weg.

„Du bist gemein", schmetterte er ihm entgegen.

„So sind große Brüder eben", entgegnete er und drückte, um seine Worte zu unterstreichen, die Klingel. „Also bis dann!"

Mit einem letzten Klopfen auf die Schulter des Jungen, drehte sich Michael um und war aus dem Hauseingang verschwunden, noch bevor die Tür geöffnet wurde. Seine schnellen Schritte führten ihn direkt durch den Garten des Hauses, vorbei an verwilderten Rosen, zwischen deren abgestorbenen Trieben sich jetzt im Frühjahr neue bildeten. Doch er hatte keine Augen für die frisch aufblühenden Pflanzen, sondern nur ein Ziel im Sinn. Den See. Freiheit.

Das Grundstück am Ortsrand grenzte direkt an die Wiesen an, auf denen sich später im Jahr die Kühe in den Bauch standen. Jetzt hatte er allerdings freie Bahn, sodass er sich ohne Furcht über den Zaun schwang und loslief. Der Rucksack auf seinem Rücken hüpfte erwartungsvoll, während Michael über das Feld trabte. Dort, wo das Gras wieder Kies und Dreck wich, wechselte er auf den Pfad, der ihn durch ein kurzes Waldstück direkt zu dem kleinen See führen würde, an dem er seine letzten Freitage verbracht hatte.

Die Stelle, die er anpeilte, war allerdings nicht direkt vom Weg aus zu erreichen, denn sie lag einige hundert Meter abseits, versteckt unter alten Baumkronen. Gerne dachte er daran, dass womöglich nur sie die winzige Bucht kannten. Nur er und...

Seine Schritte beschleunigten sich noch einmal, als er sie zwischen Bäume lenkte, hinunter von dem befestigten Weg. Zweige knackten unter seinen Sohlen, trockenes Laub raschelte, als er dorthin lief, wo er schon seit dem Moment wieder sein wollte, an dem er den Ort letzte Woche verlassen hatte. Vorfreude stieg in ihm auf. Er leckte sich über die Unterlippe, verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, während seine Füße ihren Weg durch das Dickicht von ganz allein fanden. Er drückte sich zwischen einer Haselnussstaude und einem dornigen Busch hindurch, bückte sich unter einen tiefhängenden Ast. Er sprang leichtfüßig über die dicke Wurzel, hinter der sich der Wald lichtete und das Gelände sanft zum See hin abfiel. Der Strandabschnitt der Bucht war steinig und unbequem, aber er war ihrer.

Love and DestroyWhere stories live. Discover now