Kapitel 1

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R a v e n

»Live, es wird die Hölle«, seufze ich und lasse mich mit dem Rücken auf mein Bett fallen. »Du übertreibst«, kichert sie. Im Hintergrund höre ich es bei ihr rascheln.

Es ist beinahe Nachmittag, und wahrscheinlich habe ich sie mit meinem Anruf aus dem Schlaf geweckt. Sie hat sich erst vor ein paar Tagen ›Sims 4‹ gekauft und bestimmt die ganze Nacht damit verbracht, ihre Charaktere miteinander Kinder zeugen zu lassen. Noch immer verstehe ich nicht ganz das Prinzip hinter diesem Spiel, und wie sie dabei alles um sich herum vergessen kann - so auch die Uhrzeit.

»Sie bestehen darauf, dass ich für das erste Semester bei ihm einziehe. Ich habe bis hier oben gehört, wie heftig er sich dagegen gewehrt hat. Er hat wortwörtlich gesagt, dass er keine Zeit habe, um für mich den Babysitter zu spielen. Als wäre ich nicht selbst dazu in der Lage, auf mich aufzupassen. Er hasst mich Live - und jetzt sogar noch mehr als davor!«

Erschöpft streiche ich mir durch mein Gesicht. Den gestrigen Abend habe ich noch einmal versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, Live und mich in eine gemeinsame Wohnung ziehen zu lassen; dass ich durchaus in der Lage war, für mich alleine zu sorgen. Doch es war zwecklos.

»Es ist ein Semester, Raven, und wenn er wirklich so unausstehlich ist, wie du immer sagst-« »Ist er!«, unterbreche ich sie. »Dann kannst du immer bei mir Zuflucht suchen, versprochen.«

Laut seufze ich und suhle mich im Selbstmitleid. Irgendwie ist es mir schon klar gewesen, dass das passieren würde. Anfangs waren es nur kleine eingeworfene Sätze, wie zum Beispiel, dass die Wohnung von Matthew nicht weit vom Campus sei; und er ein unbenutztes Zimmer habe, schließlich sei sein Mitbewohner vor einigen Monaten ausgezogen und somit habe ich gleich jemanden, der sich dort auskennt und mir helfen könnte, wenn ich nicht weiter wüsste.

Jetzt denke ich mir, vielleicht wollen sie es einfach nicht verstehen, oder sie sind wirklich blind, um nicht zu sehen, dass Matthew mich mit jeder seiner viel zu perfekten Zellen verabscheut. Er würde wahrscheinlich lieber tausende rosa Flamingos essen, als mir in irgendeiner Weise zu helfen.

Doch wenigstens habe ich meine Eltern irgendwie davon überzeugen können, dass ich nur das erste Semester bräuchte, um mich zurechtzufinden; mir in dieser Zeit in Ruhe eine eigene Bleibe suchen würde, in die ich danach einziehe und ihnen somit zeigen würde, dass ich von Anfang an dazu in der Lage war, mein eigenes Leben zu bewerkstelligen.

»Ich verstehe einfach nicht, warum sie mir nicht genug vertrauen, wenn ich sage, dass ich für mich alleine sorgen kann«, murre ich und sehe auf meine blauen Stitch-Hausschuhe, die ich in die Luft recke.

»Ich weiß nicht, Raven, vielleicht wegen des Vorfalls, als du die ganze Küche unter Wasser gesetzt hast?« Schnaufend rümpfe ich die Nase. »Der Wasserhahn ist mir aus der Hand gerutscht. Passiert ja wohl jedem mal!«

»Oder das andere Mal, als du zu viel Waschmittel in die Waschmaschine gegeben hast und euer ganzer Keller voller Schaum war?« »Ey! Das ist jetzt aber wirklich nicht meine Schuld. Woher sollte ich denn wissen, wie viel man da reinkippt?!« »Das steht hinten auf der Verpackung!« Wieder schnaufe ich und verdrehe die Augen.

»Und was ist mit den unzähligen Malen, wo du dir beinahe deine Finger abgeschnitten hättest, weil du Brot schneiden wolltest?« Protestierend öffne ich den Mund, doch sie kommt mir zuvor. »Oder als du über deine eigenen Füße gestolpert und die ganze Treppe heruntergefallen bist?« Sofort fasse ich mir auf die kleine Narbe an meiner Schläfe, die mich wohl für immer an diesen Tag erinnern wird.

»Oder soll ich damit anfangen, wie du dich beinahe mal selbst vergiftet hättest?!« »Okay, okay. Ich hab's verstanden«, brumme ich und rolle mich auf dem Bett zusammen.

Hateful kisses.Where stories live. Discover now