2. Five miles on ice

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Jun

Die frostige Luft sticht mir in die Lungen. Fucking Minusgrade und Eisregen haben mir gerade noch gefehlt!

Hinter mir höre ich eine Detonation. Die Erde wird erschüttert. Die Schockwelle wirft mich Kopf voran in den gefrorenen Schnee. Der Aufprall ist hart. Meine Lippe platzt auf. Glassplitter schleudern durch die Luft, rieseln auf mich herab wie messerscharfe Schneeflocken.

Schreie. Schrill, sodass sie die Ruhe zerreissen.

In einer Sekunde stehe ich wieder auf den Beinen, das Jif-Glas unter meinen Oberarm geklemmt und renne weiter. Kein Blick zurück. Niemals.

Ich sauge an meiner Unterlippe, schmecke mein eigenes Blut, lecke es weg, damit es nicht auf den Schnee tropft. Den Gartenzaun überwinde ich mit einem gekonnten Sprung und renne weiter. Immer rennen. Nie gehen.

Das regelmässige Training im langen Gang vom Quincy hat sich ausgezahlt. Einen Sprint über fünfhundert Yards kriege ich selbst im tiefsten Winter hin – wenn dieser scheiss Asphalt nur nicht so rutschig wäre!

Mein Hals kratzt. Fuck! Ich kann es noch immer nicht fassen, dass dieses Biest mich beinahe umgenietet hat. Dabei war die so klein wie eine Allstar-Cheerleaderin. Winzig, dass man sie durch die Luft hätte werfen können. Stattdessen hat die mich zu Boden gerissen. Mich!

Das darf mir nicht nochmal passieren. Nicht, wenn Nari und Ruby auf mich angewiesen sind.

Ich kann nur hoffen, dass die roten Bastarde dieses Miststück holen. Geschieht ihr verdammt nochmal recht. Der Brutkasten oder das Fleischhaus – mir egal, was die mit der machen, Hauptsache eine Ratte weniger in meiner Stadt.

Ich erreiche die Kreuzung. Jamaica Plain ist ausgestorben. Schon lange war ich nicht mehr so weit vom Unterschlupf weg. Der Winter erfordert es jedoch. Wie viele von uns sind bereits verhungert oder erfroren? Ich war überrascht, überhaupt auf jemanden zu treffen – bei den tödlichen Temperaturen.

Meine Lungen schmerzen und ich verlangsame den Schritt. Ich höre, dass die Kerle mir nicht folgen. Die haben all ihre Power auf die Kleine gerichtet.

Gut so.

Dann kann ich den Rest über die Columbus Avenue im gemächlichen Schritt joggen, ohne dass ich Blut spucke. Bis zur Waterfront sind es fünf Meilen.

Fünf Meilen in klirrender Kälte.

Hätte ich mein Fahrrad nicht in Q.M. stehen gelassen, dann wäre ich in Nullkommanichts wieder in der Wärme. Aber bei der spiegelglatten Strasse bin ich zu Fuss einfach agiler.

Das Erdnussbutterglas stopfe ich schnell in den Rucksack, ehe ich weitergehe.

X X X

Die Hitze unseres Verstecks ist ein feuchtwarmer Schlag ins Gesicht. Meine Haut kribbelt, als ich den Riegel hinter mir schliesse und sichergehe, dass sich die schwere Doppeltür nicht öffnen lässt.

Für einen Moment stütze ich mich mit beiden Händen an der Tür ab und warte darauf, bis sich meine Lungen erholt haben, bis das Adrenalin in meinem Blut allmählich herunterfährt. Dann stosse ich mich ab und steuere auf unsere Nische zu.

Meine Hand wandert an den Hals. An die Stelle, an welcher ich gewürgt wurde. Laut ziehe ich die Luft ein. Das wird blaue Flecken geben. Das fühlt sich verdächtig nach einer Quetschung an. Ich kann von Glück sprechen, dass sie mir nicht einen Halswirbel gebrochen hat.

Wie konnte dieses kleine Mädchen bloss so viel Kraft in sich haben? Mittlerweile sind sogar die robustesten Streuner so stark vom Hunger geschwächt, dass sich ihre Körper selbst verspeisen. Nur noch Haut und Knochen. Keine Muskeln.

Aber das, was ich an ihr gespürt hatte, waren eindeutig sehnige Muskeln. Verdammt kräftige Muskeln für ein Mädchen. Scheisse!

Ich steuere auf die Couch zu.

„ANYEONG!", werde ich vom altbekannten Kreischen begrüsst.

„Halt den Schnabel, Ruby!", knurre ich zurück.

Seufzend werfe ich den Rucksack in die Ecke und schmeisse mich auf die Couch. Den Kopf lege ich in den Nacken. Ich bin zu müde, um meine Jacke abzustreifen, meine Glieder noch steif vom Eisreigen, der zehn Minuten nach meiner Flucht aus dem Haus eingesetzt hatte.

Ruby flattert mit ihren Flügeln und wackelt über die Sofalehne auf mich zu. Sie bleibt vor meinem Gesicht stehen.

„HALT DEN SCHNABEL RUBY!", krächzt sie mir ins Ohr. Ich will sie mit dem Zeigefinger wegschubsen, doch da lehnt sie ihr kleines Köpfchen an meine Wange. „ZUHAUSE, JUN-OPPA, ZUHAUSE!"

Automatisch schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Die Wunde an meiner Unterlippe brennt, aber es ist mir egal. Die Kuscheleinheit mit meiner Graupapageiendame lasse ich mir nicht entgehen.

„Oppa!", höre ich eine zweite Stimme, die mein Lächeln nur noch breiter werden lässt.

Nari springt aufs Sofa und wickelt ihre kleinen Arme um mich, den Kopf drückt sie mir auf die Brust. Sie umarmt mich fest. So fest, dass ich so tue, als würde mir die Luft ausgehen. Ich keuche dramatisch, was sie aufquieken und ihre Arme von mir ziehen lässt.

„Du warst lange weg." Die mahnenden Worte verengen meine Brust.

Ich war kurz davor, nie zurückzukommen, aber das muss sie nicht wissen. Stattdessen lehne ich mich vor, ziehe den Rucksack über den Boden und öffne ihn, zaubere das riesige Erdnussbutterglas hervor, das ich ergattert habe und strecke es meiner kleinen Schwester hin.

„Manchmal muss man für die guten Dinge im Leben einen beschwerlichen Weg auf sich nehmen", sage ich und klinge dabei weiser als beabsichtigt.

Ihr Gesicht erhellt sich und sie reisst den Mund weit auf. Ein überraschtes, offenes Grinsen, gemischt mit glänzenden Augen. Augen, die mich für eine ganze Weile lang nicht mehr matt und voller Hunger anblicken werden müssen.

Mit diesem einen XL-Glas werden wir mindestens einen Monat zu zweit auskommen können, wenn es das Einzige ist, was wir essen können. Ausser ich greife wieder ins Glück und nicht in die Scheisse, wie die letzten paar Male und finde irgendwo eine Dose Bohnen mit Ahornsirup.

Mann, das wäre geil.

„Darf ich?", fragt Nari und deutet auf das Erdnusbutterglas in meinen Händen.

Sie weiss, was es bedeutet, sein Essen rationieren zu müssen. Sie würde niemals zu viel auf einmal herunterschlingen. Also öffne ich das Glas. Der Deckel lässt mit einem lauten Plopp nach und schon breitet sich der buttrig nussige Geruch aus, den wir beide aus unserer Kindheit kennen.

Naris kleiner Zeigefinger taucht in die hellbraune Masse und als sie den Finger in den Mund steckt, ihre Lippen sich darum schliessen und ihre Augen nach hinten rollen, da habe ich den Schmerz an meiner Lippe, an meiner Kehle, in meiner Brust bereits vergessen.

Hierfür lohnt es sich zu kämpfen.

Die Dankbarkeit in den Gesichtszügen meiner Schwester ist der einzige Grund, warum ich es wieder tun würde. Warum ich es wieder riskieren würde, in die Brutalität dieser Welt zu treten, um nach Nahrung zu suchen.

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Author's Note:

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The Green LineWhere stories live. Discover now